Ein Jahrzehnt lang war der Kläger, der ein angesehener Krebsspezialist ist, Chefarzt des katholischen St.-Vinzenz-Krankenhauses in Düsseldorf. Nach der Scheidung von seiner Frau heiratete er seine neue Lebensgefährtin standesamtlich. Hierin sah die Beklagte einen Loyalitätsverstoß des Klägers und kündigte ihm aus verhaltensbedingten Gründen fristgemäß. Dadurch, dass er nach der Scheidung seiner ersten Ehe eine zweite, standesamtliche Ehe eingegangen war habe er sich in Widerspruch zum römischkatholischen Eherecht gesetzt.

Kündigungsschutzklage in allen Instanzen der Arbeitsgerichtsbarkeit erfolgreich

Die von dem Kläger hieraufhin eingereichte Kündigungsschutzklage war in allen drei Instanzen erfolgreich. In seiner Entscheidung vom 8.9.2011 kam das Bundesarbeitsgericht (BAG), ebenso wie die Vorinstanzen, zu dem Ergebnis, dass die dem Kläger ausgesprochene Kündigung sozial ungerechtfertigt sei. Der Kläger habe sich, so das BAG, zwar einen Loyalitätsverstoß zuschulden kommen lassen, dem mit Rücksicht auf das kirchliche Selbstbestimmungsrecht beträchtliches Gewicht zukommt. Insgesamt jedoch habe das Interesse des Klägers an der Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses überwogen. 

 

Mit in die Entscheidungsfindung einbezogen hatte das BAG auch, dass die Beklagte Ärzte anderer Konfessionen und auch Mediziner in zweiter Ehe beschäftigt. Nicht zuletzt hob das BAG den grundrechtlich geschützten Wunsch des Chefarztes hervor, mit seiner neuen Partnerin eine Ehe nach bürgerlichem Recht zu schließen.

 

Durch diese Entscheidung der Erfurter Richter existierte ein höchstrichterliches Urteil, welches Arbeitnehmern kirchlicher Einrichtungen, die nach einer Scheidung eine neue Ehe eingehen wollen oder bereits ein solche führen, Hoffnung gab. Sie liefen nun nicht mehr Gefahr, ihren Arbeitsplatz unter Berufung auf Verletzung besonderer Loyalitätsobliegenheiten kirchlicher Arbeitnehmer (Eingehung einer zweiten, nach Maßstäben der römisch-katholischen Kirche ungültigen Ehe) zu verlieren.

Die BAG Entscheidung zugunsten des wieder verheirateten Klägers wurde überwiegend als zeitgemäß angesehen. Nach der für Aufsehen sorgenden Entscheidung im September 2011 konnte man davon ausgehen, dass die Entscheidung als Beginn einer Kehrtwende zu sehen ist, die den Vorgaben des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMBR) entsprach.

 

Denn das Straßburger Gericht hatte in mehreren Entscheidungen die Auffassung vertreten, dass auch in Kündigungsstreitigkeiten zwischen kirchlichen Einrichtungen und Arbeitnehmern eine offene Güterabwägung stattfinden müsse, bei der alle sozialen Aspekte eine Rolle spielen müssten.

Verfassungsrichter betonen verfassungsrechtlich vorgegebene Pflicht des Staates zu weltanschaulich-religiöser Neutralität und verweist zurück ans BAG

Mit dem Beschluss vom 22.10.2014 bleibt der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) bei seiner bisherigen Linie, wonach staatliche Gerichte die Loyalitätsobliegenheiten in kirchlichen Arbeitsverhältnissen nur eingeschränkt überprüfen dürfen. Demnach entscheidet allein die Kirche, welche Grundverpflichtungen für das Arbeitsverhältnis von Bedeutung sind und welche nicht. Nur wenn dies im Widerspruch zu grundlegenden verfassungsrechtlichen Gewährleistungen steht, dürfen die Gerichte einschreiten.

 

Das BVerfG stützt sich auf die verfassungsrechtliche Pflicht des Staates zu weltanschaulich-religiöser Neutralität. Dem Staat, so die Verfassungsrichter*innen, sei es untersagt, Glauben und Lehre einer Kirche zu bewerten. Das Gericht geht davon aus, dass die Arbeits- und Kündigungsschutzgesetze "im Lichte der verfassungsrechtlichen Wertentscheidung zugunsten der kirchlichen Selbstbestimmung auszulegen" sind. Die Interessen der Kirche genießen also einen grundsätzlichen Vorrang. Allerdings weist auch das BVerfG darauf hin, dass die Schutzpflichten des Staates gegenüber Arbeitnehmern aus Art. 12 Abs. 1 GG nicht vernachlässigt werden dürften.

 

Von daher hätten die staatlichen Gerichte in zwei Schritten zu prüfen: Zunächst müsse festgestellt werden, ob die Organisation oder Einrichtung, die als Arbeitgeberin auftritt, auf Grundlage des Selbstverständnisses der Kirche auch tatsächlich an der Verwirklichung des kirchlichen Grundauftrags teilhat. Zudem müssen die Arbeitsgerichte prüfen, welches Gewicht ein Verstoß gegen bestimmte Loyalitätspflichten nach dem kirchlichen Selbstverständnis hat. Dabei seien die staatlichen Gerichte allerdings darauf beschränkt, die Darlegungen des kirchlichen Arbeitgebers auf ihre Plausibilität hin zu prüfen. Eigene Wertungen verböten sich. Wo es Zweifel gibt, sei ein theologisches Sachverständigengutachten einzuholen.

 

Auf der zweiten Prüfungsebene folge dann eine Gesamtabwägung der kirchlichen Belange und der korporativen Religionsfreiheit mit den Grundrechten des Arbeitnehmers. Das einschränkende arbeitsrechtliche Gesetz müsse dabei im Lichte des Selbstbestimmungsrechts der Kirche betrachtet werden, deren Selbstverständnis nach Ansicht der Richter ein "besonderes Gewicht" hat. Die Interessen der Kirche dürften die Belange des Arbeitnehmers aber nicht prinzipiell überwiegen. Denn "absolute Kündigungsgründe" kenne das staatliche Arbeitsrecht nicht.

 

Das BVerfG verwies das Verfahren an das Erfurter BAG zurück, da, so die Richter*innen des Zweiten Senats des Verfassungsgerichts, der Zweite Senat des BAG in seiner für den klagenden Chefarzt obsiegenden Entscheidung vom 8.9.2011 „die Bedeutung und Tragweite des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts nicht ausreichend berücksichtigt hätte“.

Anmerkung: 

Kirchenrecht bricht Menschenrecht. Ist das noch zeitgerecht?

Mit der Entscheidung des BAG vom 8.9.2011 keimte die Hoffnung auf, dass die Entscheidung zugunsten des wieder verheirateten Klägers als eine Kehrtwende zu sehen ist, die den Vorgaben des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMBR) entspricht. Danach hat in Kündigungsstreitigkeiten zwischen kirchlichen Einrichtungen und Arbeitnehmern eine offene Güterabwägung statt zu finden, bei der auch alle sozialen Aspekte eine Rolle spielen müssen. 

 

Über zwei Jahre nach dieser BAG-Entscheidung konnte man davon ausgehen, dass zukünftig bei vergleichbaren Fällen zwischen dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht und den Interessen des Arbeitnehmers an der Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses eine Interessenabwägung vorzunehmen ist. Von einer Verfassungsbeschwerde war lange Zeit nichts bekannt.

 

Erstmals aus der Terminvorschau Nr. 15 (2 BvR 661/12) des Zweiten Senats des BVerfG für das Jahr 2014 wurde auf die anstehende Entscheidung der

„Verfassungsbeschwerde einer katholischen Krankenhausträgergesellschaft gegen arbeitsgerichtliche Entscheidungen, durch die die Unwirksamkeit der ordentlichen Kündigung eines Chefarztes wegen Verstoßes gegen besondere Loyalitätsobliegenheiten kirchlicher Arbeitnehmer (Eingehung einer zweiten, nach Maßstäben der römisch-katholischen Kirche ungültigen Ehe) festgestellt wurde“

hingewiesen, von der nur ein kleiner Kreis Interessierter Kenntnis erlangte. Der Öffentlichkeit wurde die Verfassungsbeschwerde und deren Ergebnis erst durch eine Pressemitteilung des BVerfG vom 20.11.2014 bekannt.

Nachdem nun die Entscheidung des BVerfG im Raum steht und das BAG erneut über die Sache zu entscheiden hat, kann man nur hoffen, das es den Richter*innen des BAG im Rahmen der erneuten Entscheidungsfindung gelingt, unter Beachtung der Hinweise der Richter*innen des BVerfG, zum selben Ergebnis zu kommen, wie dies am 8.9.2011 der Fall war.

Die Vorstellung, dass es dem BAG nicht gelingen sollte seine im Jahr 2011 eingeschlagene Linie aufrecht zu erhalten und den Arbeitsplatz des Klägers, der weiterhin bei der Beklagten arbeitet, zu sichern, lässt den Autor erschauern!

DOWNLOAD:

Pressemitteilung des Bundesverfassungsgericht (BVerfG) vom 20.11.2014, Aktenzeichen: 2 BvR 661/12

Vollständige Bundesverfassungsgericht (BVerfG)-Entscheidung vom 20.11.2014, Aktenzeichen: 2 BvR 661/12

Vollständige Bundesarbeitsgerichts (BAG) – Entscheidung vom 8.9.2011 – Aktenzeichen: 2 AZR 543/10