Die Klägerin ist seit 2002 als Montagehelferin im Akkord bei einem Unternehmen zur Entwicklung und Produktion elektronischer Baugruppen beschäftigt. Im Streit steht die Zahlung von Mindestlohn nach dem Mindestlohngesetz (MiLoG). Die Arbeitgeberin zahlt einen Grundlohn, der unterhalb des gesetzlichen Mindestlohns liegt. Hinzu kommt eine Leistungszulage, die gekappt wird, so dass insgesamt ein Stundenlohn um die 8,50 € bezahlt wird.
Das IG Metall-Mitglied ist damit nicht einverstanden und wandte sich deshalb zunächst an ihre Gewerkschaft. Diese beauftragte den DGB Rechtsschutz in Herford, der Klage beim Arbeitsgericht erhob.
Das Ziel: Ein Grundlohn in Höhe von 8,50 € und zusätzlich die Leistungszulage.
Arbeitsgericht Herford spricht Klägerin bis zu 485,10 € mehr Lohn pro Monat zu
Dieses Ziel konnte erreicht werden. Das Arbeitsgericht Herford verurteilte die Arbeitgeberin dazu, ihrer Mitarbeiterin für die eingeklagten Monate aus dem Jahr 2015 Beträge bis zu 485,10 € nachzuzahlen. Denn: Die Klägerin habe einen Anspruch auf einen Grundlohn in Höhe des gesetzlichen Mindestlohns und auf die vereinbarte Leistungszulage. Das ergäbe sich aus dem Mindestlohngesetz und der vertraglichen Vereinbarung der Parteien.
Bei der Frage der richtigen Entlohnung stand zunächst der Arbeitsvertrag im Fokus. Arbeitgeberin und Arbeitnehmerin hatten darin vereinbart, dass
- die Vergütung im Akkordlohn (Stückakkord) erfolgt,
- der vereinbarte Grundstundenlohn 6,22 € beträgt und
- die Leistungszulage bis zu 35% des Grundlohns.
Die maximal erzielbare Leistungszulage wurde später auf 37% erhöht.
Akkordzuschlag erfüllt den Anspruch auf Mindestlohn nicht
Ausgangspunkt für die Richter war die Vereinbarung des Grundstundenlohn von 6,22 EUR Diese Vereinbarung sei mit Inkrafttreten des Mindestlohngesetzes unwirksam geworden und werde ersetzt durch die gesetzliche Rechtsfolge des Anspruchs auf einen Mindestlohn von 8,50 EUR pro Zeitstunde.
Die entscheidende Frage ist dann, ob der Akkordzuschlag Teil des Mindestlohns ist. Aus dem Gesetz selbst ergibt sich nicht, was der Mindestlohn ist und welche Zahlungen auf ihn anzurechnen sind.
Vorgaben des Europäischen Gerichtshofs zur Entsenderichtlinie auf den Mindestlohn zu übertragen
Die Bundesregierung hatte während des Gesetzgebungsverfahrens eine Definition verwehrt. Die Frage der Auslegung des Begriffs Mindestlohns und die Frage der Berechnung von Mindestlöhnen sei durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes und des Bundesarbeitsgerichts zum Mindestentgeltsatz des Arbeitnehmerentsendegesetzes geklärt.
Daraus ergibt sich folgendes: Zulagen müssen als Bestandteil des Mindestlohnes anerkannt werden, wenn sie nicht das Verhältnis zwischen der Leistung des Arbeitnehmers und der von ihm erhaltenen Gegenleistung verändern (EuGH, Entscheidungen vom 14.04.2015 und 7.11.2013, C-341/02 und C-522/12).
Das Stichwort lautet funktionale Gleichwertigkeit
Um zu bestimmen, ob eine Zahlung auf den Mindestlohn angerechnet werden kann, kommt es darauf an, welchem Zweck die Zahlung dient. Denn Leistungen sind dann anrechenbar, wenn sie in ihrer Zwecksetzung dem Mindestlohn funktional gleichwertig sind. Das bedeutet, angerechnet werden kann der Lohnbestandteil, der die arbeitsvertraglich vereinbarte, also die normale Tätigkeit der Arbeitnehmer*innen vergütet. Nicht anrechenbar sind Zahlungen, die eben nicht die Normaltätigkeit vergüten und dem Zweck nach keine Bestandteile des (Grund-)Lohns sind. Damit sind nicht anrechenbar Zulagen, die für zusätzliche und besondere Leistungen oder für besondere Arbeitsbedingungen gezahlt werden.
Das Gericht berief sich mehrfach auf die wichtige Entscheidung des Arbeitsgerichts Berlin vom 04.03.2015 (54 Ca 14420/14) zur Frage der Nichtanrechenbarkeit von Sonderzahlungen.
Unter anderem für diese Position: Der ausdrückliche Verzicht des Gesetzgebers auf die Definition, welche Lohnbestandteile auf den Mindestlohn anrechenbar sind und welche nicht, werde nicht dadurch ersetzt, dass die Bundesregierung statt entsprechender Regelungen im Gesetz ihre Vorstellungen auf einer Internetseite kommuniziere. Dies bezieht sich auf die Seite des Zolls zum Mindestlohn.
Auslegung MiLoG ergibt: Leistungszulage nicht auf Mindestlohn anrechenbar
Die Richter kamen zu dem Zwischenergebnis, dass der Gesetzeswortlaut die Frage der Anrechenbarkeit eines Akkordzuschlages auf den gesetzlichen Mindestlohn offenlässt, so dass es einer Auslegung bedarf.
Das Gericht folgte sodann nicht der systematischen Auslegung, sondern der historischen Auslegung. Diese führe zum Ergebnis, dass Akkordzuschläge auf den gesetzlichen Mindestlohn nach im Sinne von § 1 Absatz 1 und 2 Mindestlohngesetz nicht angerechnet werden. Entscheidende Aspekte waren dabei die oben erwähnte fehlende gesetzliche Regelung und eine unionskonforme Auslegung in Anlehnung an die europäische und höchstrichterliche deutsche Rechtsprechung zur Entsenderichtlinie und dem Mindestlohn im Abfallgewerbe. Danach sei die funktionale Gleichwertigkeit für die Anrechenbarkeit einer Arbeitgeberleistung auf den allgemeinen Mindestlohn maßgeblich.
Diese allgemeinen Erwägungen angewendet auf den konkreten Fall bedeuteten, dass die Klägerin mit einem Grundlohn von 8,50 € und einem Akkordzuschlag in Höhe von 37 % zu vergüten sei.
“Kein Ergebnis, das mit Recht und Gerechtigkeit schlechthin nicht zu vereinbaren ist“
Die Arbeitgeberin drang nicht durch mit ihren Argumenten. Eine einheitliche Lohngestaltung in Form einer Akkordvergütung werde künstlich in zwei Bestandteile (Grundlohn und Akkordzuschlag) aufgeteilt, so ein Argument. Solch eine Aufteilung gäbe es weder in der Praxis noch sei eine solche arbeitsvertraglich vereinbart worden. Dem schlossen sich die Richter des Arbeitsgerichts Herford nicht an.
Auch der Versuch, einen Rettungsanker zu werfen, half dem Unternehmen nicht. Sollte die arbeitsvertragliche Vergütungsregelung mit dem Mindestlohngesetz nicht vereinbar sein, schulde sie nicht die eingeklagte Vergütung, sondern nur die, die im Wirtschaftsgebiet üblicherweise für eine vergleichbare Tätigkeit gezahlt wird.
Klare Antwort des Gerichts: Nein. Der Stundenlohn von 11,65 € wird im Akkord erreicht, wenn Leistungen erbracht werden, die die Leistung der im Zeitlohn Beschäftigten um 137 % übersteigt. Kein Ergebnis, das mit Recht und Gerechtigkeit schlechthin nicht zu vereinbaren sei, so die abschließende Einschätzung des Gerichts.
Anmerkung der Redaktion: Mindestlohn unterstes Maß an Austauschgerechtigkeit
Eine gute und richtige Entscheidung. Wichtig nicht nur für die Klägerin, sondern für alle im Akkord beschäftigten, die mit einem Grundlohn und einer Leistungszulage vergütet werden.
Die erste Kammer des Arbeitsgerichts Herford hat sich deutlich gegen die „Unter-dem-Strich-Rechtsprechung“ gestellt. Danach käme es beim Mindestlohn nur darauf an, dass die Arbeitnehmer*innen „unter dem Strich“ für die Arbeitsleistung eine Vergütung in Höhe des Mindestlohns erhalten. Zu Recht hält das Gericht dem entgegen, dass der Mindestlohn nicht nur eine existenzsichernde Funktion hat und Arbeitnehmer*innen keine besondere Leistung erbringen müssen, um Anspruch auf den Mindestlohn zu haben.
Die Entscheidung ist nicht nur im Ergebnis richtig, sie führt auch ausführlich und nachvollziehbar zu diesem Ergebnis. Für diejenigen, die sich mit dem Thema “Anrechenbarkeit von Leistungen auf den Mindestlohn“ auseinanderzusetzen haben, lohnt sich die Lektüre und in vergleichbaren Verfahren ein Verweis auf das Urteil.
Aber: Das Urteil ist nicht rechtskräftig. Die Arbeitgeberin hat Berufung eingelegt beim Landesarbeitsgericht Hamm (AZ: 16 Sa 1627/15). Noch liegt also nur ein Etappensieg vor. Wir hoffen, dass auch die zweite Runde im Sinne der Arbeitnehmer*innen entschieden wird und werden darüber berichten.
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Im Praxistipp: Gesetz zur Regelung eines allgemeinen Mindestlohns (Mindestlohngesetz - MiLoG) § 1 Mindestlohn
Rechtliche Grundlagen
Gesetz zur Regelung eines allgemeinen Mindestlohns (Mindestlohngesetz - MiLoG) § 1 Mindestlohn
§ 1 Mindestlohn
(1) Jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer hat Anspruch auf Zahlung eines Arbeitsentgelts mindestens in Höhe des Mindestlohns durch den Arbeitgeber.
(2) Die Höhe des Mindestlohns beträgt ab dem 1. Januar 2015 brutto 8,50 Euro je Zeitstunde. Die Höhe des Mindestlohns kann auf Vorschlag einer ständigen Kommission der Tarifpartner (Mindestlohnkommission) durch Rechtsverordnung der Bundesregierung geändert werden.
(3) Die Regelungen des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes, des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes und der auf ihrer Grundlage erlassenen Rechtsverordnungen gehen den Regelungen dieses Gesetzes vor, soweit die Höhe der auf ihrer Grundlage festgesetzten Branchenmindestlöhne die Höhe des Mindestlohns nicht unterschreitet. Der Vorrang nach Satz 1 gilt entsprechend für einen auf der Grundlage von § 5 des Tarifvertragsgesetzes für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrag im Sinne von § 4 Absatz 1 Nummer 1 sowie §§ 5 und 6 Absatz 2 des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes.