Ein Großteil der Arbeitnehmer leistet Überstunden. Der Anteil ist in den Jahren 2001 bis 2009 nach einer Studie des IAB mit 70% konstant geblieben. Solange die geleisteten Überstunden durch Freizeit ausgeglichen oder bezahlt werden, kann dies noch hingenommen werden. Skandalös ist jedoch, dass ein erheblicher Teil der Beschäftigten unbezahlt und ohne Ausgleich länger als vertraglich vereinbart arbeiten muss. Nach einer Studie des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle wurden im Jahr 2010 etwa 1,4 Mrd. Arbeitsstunden weder bezahlt noch durch Freizeit ausgeglichen. Damit lagen die unbezahlten Überstunden sogar leicht über den bezahlten oder ausgeglichenen Überstunden, die im Jahr 2010 einen Umfang von ca. 1,3 Mrd. ausmachten. Die Zahl der unbezahlten Überstunden unterscheidet sich je nach Wirtschaftsbranche deutlich. Das Dienstleistungsgewerbe (ohne den öffentlichen Dienst) lag im Jahre 2010 an der Spitze, gefolgt von Handel, Gastgewerbe und Verkehr sowie dem Baugewerbe.
Unbezahlte Überstunden senken den effektiven Stundenlohn. Der Arbeitnehmer arbeitet bei gleichbleibendem Lohn länger und leistet damit mehr Stunden als vertraglich vereinbart. Damit erhält er pro Arbeitsstunde weniger Geld. Gelten tarifliche Lohnregelungen, wird damit der Tariflohn unterlaufen. Arbeitgeber verringern auf Kosten der betroffenen Beschäftigten ihre Produktionskosten und steigern ihre Wettbewerbsfähigkeit. Nicht nur der Verdienst wird geschmälert; die Arbeitnehmer verfügen über weniger Freizeit, was sich belastend auf Familie und Gesundheit auswirken kann und damit auch ein gesellschaftliches Problem ist. Im Speditionsgewerbe kommen die Gefahren für Leib und Leben anderer Verkehrsteilnehmer hinzu, wenn Fahrer durch Überstunden gestresst und übermüdet sind.
Die Hürden der Rechtsprechung
Zur Eindämmung unbezahlter Mehrarbeit hat die Rechtsprechung in der Arbeitsgerichtsbarkeit bislang nicht beigetragen. Im Gegenteil. Arbeitnehmer und Prozessbevollmächtigte können ein Klagelied singen, wenn sie an die Erfolgsaussichten von Überstunden-Klagen denken.
Die typische Situation des Arbeitnehmers besteht darin, dass er während des bestehenden Arbeitsverhältnisses bereit war, Überstunden zu leisten. Um seinen Arbeitsplatz nicht zu gefährden, hat er auch den fehlenden Ausgleich zunächst hingenommen. Irgendwann treten gesundheitliche Probleme auf, der Ärger über die fehlende Freizeit wird immer größer, eventuell ist das Arbeitsverhältnis auch schon aus anderen Gründen belastet oder inzwischen beendet. Der Arbeitnehmer will die geschenkten Stunden endlich vergütet erhalten.
Und nun bauen sich ungeahnte Hürden auf. Die Ansprüche können wegen fehlender schriftlicher Geltendmachung bereits (teilweise) verfallen sein. Der Arbeitnehmer weiß nur noch vage und nicht mehr bezogen auf einzelne Arbeitstage, wann er Mehrarbeit geleistet hat. Der Arbeitgeber bestreitet die geleisteten Stunden und behauptet, von ihnen nichts gewusst, sie nicht geduldet, geschweige denn angeordnet zu haben. Da auch Richter teilweise von Mehrarbeit belastete Beschäftigte sind, schrecken sie vor dem hohen Arbeitsaufwand, der mit Überstunden-Klagen verbunden ist, zurück.
Vor diesen Mühen schützt das rechtliche Instrumentarium der Schlüssigkeit einer Klage. Darunter versteht man, dass die Tatsachen so konkret vorzutragen sind, dass das Gericht – wenn es den Sachvortrag als richtig unterstellt – der Klage stattgeben kann. Sind die dargestellten Umstände aber schon zu allgemein oder in sich widersprüchlich oder fehlen notwendige Angaben, die aber Voraussetzung für den Anspruch sind, kann das Gericht die Klage abweisen, ohne auf die Hinweise des Gegners einzugehen oder Zeugen zu hören. Es ist also klar: Je höhere Anforderungen an die Darstellung des Arbeitnehmers zu seinen geleisteten Überstunden gestellt werden, desto leichter ist es dem Gericht, wegen der vermeintlich fehlenden Darstellung – auch ohne aufwändige Beweisaufnahme - die Klage abzuweisen.
Entscheidung im Speditionsgewerbe
Ein anschauliches Beispiel für diese Gerichtspraxis bietet eine Entscheidung des Landesarbeitsgerichts (LAG) Sachsen, die vom Bundesarbeitsgericht (BAG) aufgehoben wurde. Es ging um folgendes: Der Arbeitnehmer, der Vergütung für Überstunden einklagte, war im Transportgewerbe tätig. Auch er hatte mit der Geltendmachung gewartet, bis klar war, dass sein befristetes Arbeitsverhältnis nach einem Jahr Tätigkeit als Kraftfahrer enden würde. Er verlangt für die Zeit seiner Beschäftigung die Bezahlung von 978 Überstunden.
Das LAG Sachsen hatte die Klage abgewiesen. Hierbei hatte es genau die Argumente verwendet, mit denen Überstunden-Klagen in der Regel abgewiesen werden, nämlich angeblich nicht ausreichender Sachvortrag. Dabei konnte der Kläger sogar unter Angabe der Tageszeiten darstellen, wann er an einzelnen Tagen unterwegs war. Da er teilweise aber nur als Beifahrer eingesetzt war, genügte dies dem Gericht nicht. Dem Gericht fehlte die detaillierte Schilderung, wann der Kläger gefahren und wann er nur mitgefahren war. Ganz typisch ist auch die Rüge des Gerichts, dass der Kläger keine Pausenzeiten angegeben hatte, und dass allein eine Ungereimtheit im Vortrag ausreicht, das gesamte Klagebegehren abzuweisen.
Daran wird deutlich, dass das Gericht die Mühe gescheut hat, 978 Überstunden im Einzelnen nachzuprüfen, und sich die Sache einfach gemacht hat. Dies hat das BAG, das die Entscheidung des LAG Sachsen aufgehoben hat, ebenso gesehen und mit erfrischender Deutlichkeit festgestellt: das LAG hat die Substantiierungslast des Arbeitnehmers im Überstundenprozess überspannt.
Wende in der Rechtsprechung
Deshalb macht diese Entscheidung des BAG Hoffnung. Sie markiert einen Wendepunkt. Aus diesem Grund sollten nun weitere geeignete Fälle den Weg nach Erfurt zum BAG finden. Aus der Entscheidung kann jedenfalls folgendes abgeleitet werden:
Gerichte werden die Überstunden-Darstellung des Arbeitnehmers nicht bereits mit dem Argument ablehnen können, dass sie schon unplausibel sei, weil keine Pausenzeiten berücksichtigt werden. Nach Auffassung des BAG kann der Arbeitnehmer durchaus behaupten, dass er keine Pausen einlegen konnte.
Es reicht für einen schlüssigen Vortrag aus, wenn der Arbeitnehmer darstellt, an welchen Tagen er in welchem Zeitraum seine Arbeit geleistet hat oder sich auf Weisung seines Arbeitgebers zur Arbeit bereitgehalten hat. Im Falle eines Kraftfahrers genügt es, dass der Arbeitnehmer vorträgt, an welchen Tagen er welche Tour wann begonnen und wann beendet hat. Er muss nicht von sich aus schon darstellen, dass dem Arbeitgeber die vorgetragene Arbeitsleistung bekannt, von ihm geduldet oder von ihm angeordnet war.
Es ist vielmehr Sache des Arbeitgebers im Einzelnen darzustellen, welche Arbeitsstunden in der Überstunden-Aufstellung des Arbeitnehmers an welchen Tagen und zu welchen Zeitpunkten angefallen sind oder entgegen bestehender Anweisungen ausgeführt worden sind.
In Zukunft kann sich daher kein Arbeitgeber mehr bei der Geltendmachung von Überstunden entspannt zurücklehnen und sich auf pauschale Hinweise beschränken. Er muss sich nun die Mühe machen, sich mit den behaupteten Arbeitszeiten des Arbeitnehmers konkret auseinander setzen und im Einzelnen anhand seiner Aufzeichnungen überprüfen, ob die Arbeitsstunden richtig wiedergegeben sind.
Vor allem für das Speditionsgewerbe hat die Entscheidung eine weitreichende Bedeutung. Zunächst weist das BAG auf § 21a Abs.7 Arbeitszeitgesetz hin, wonach der Arbeitgeber verpflichtet ist, seinerseits Aufzeichnungen über die Arbeitszeit anzufertigen und diese mindestens 2 Jahre aufzubewahren. Er wird also seine Aufzeichnungen vorlegen müssen, wenn er die vom Arbeitnehmer geltend gemachten Arbeitsstunden bestreiten will. Verfügt er über keine Unterlagen, wird er die Behauptungen des Arbeitnehmers in der Regel nicht erheblich bestreiten können.
Nach der Entscheidung des BAG wird der Spediteur auch nicht mehr mit dem pauschalen Argument durchdringen, dass er das verspätete Ende der Tour nicht angewiesen oder nicht geduldet habe oder der Arbeitnehmer die Tour auch im Rahmen der Regel-Arbeitszeit hätte durchführen können. Hier wird in Zukunft ein konkreter Vortrag des Arbeitgebers zu den einzelnen Touren erwartet. Er muss seinerseits vortragen, an welchen Tagen der Arbeitnehmer aus welchen Gründen in geringerem zeitlichen Umfang als geschehen hätte arbeiten können.
Mut zum Überstundenprozess
Wir ermuntern Arbeitnehmer nach dieser Entscheidung, unbezahlte Überstunden nicht hinzunehmen. Es ist für Arbeitnehmer an der Zeit, sich zu wehren, wenn Arbeitgeber Kosten sparen, indem sie Beschäftigte in erheblichem Umfang vergütungsfrei arbeiten lassen.
Natürlich ist es für den Prozesserfolg das Beste, wenn vom Arbeitgeber abgezeichnete Stundenaufstellungen vorliegen. Das lässt sich jedoch selten durchsetzen. Arbeitgeber spekulieren darauf, dass geleistete Überstunden nach Monaten oder Jahren nicht mehr darstellbar, geschweige denn beweisbar sind. Voraussetzung für jeden erfolgreichen Prozess bleibt allerdings die detaillierte Darstellung der angefallenen Überstunden in konkret angegeben Zeiträumen an einzelnen Arbeitstagen. Wer dies nicht kann, sollte sich den Frust eines verlorenen Prozesses in der Tat auch jetzt noch sparen.
Aber bei Vorlage von Aufzeichnungen muss sich der Arbeitgeber substantiiert äußern und kann sich nicht mehr mit allgemeinen Hinweisen begnügen.
Dorothee Müller-Wenner,
Juristin Büro Gelsenkirchen