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Am 1. Juli 1948 luden sechs Mächte die Ministerpräsidenten der Länder bzw. Bürgermeister der Stadtstaaten Hamburg und Bremen in das Hauptquartier der Amerikaner nach Frankfurt am Main zu einer „Konferenz“ ein. Sechs Mächte - das waren die westlichen Siegermächte des zweiten Weltkrieges die USA, Großbritannien und Frankreich sowie die drei Benelux-Länder Belgien, Niederlande und Luxemburg. Diskussionen und Absprachen, wie in einer Konferenz üblich, gab es allerdings nicht. Stattdessen wurde den politischen Vertretern der deutschen Länder drei Dokumente mit folgenden Inhalten überreicht (sogenannte „Frankfurter Dokumente“):
Die Gründung eines demokratischen Staates auf dem Boden der drei westlichen Besatzungszonen war also zunächst kein Vorhaben, das von deutscher Seite ausging. Vielmehr mussten sie beinahe dazu gezwungen werden. Zudem behielten sich die Siegermächte auch noch vor, den Verfassungsentwurf zu genehmigen. Auch teilten sie mit, dass eine zukünftige deutsche Regierung nicht unabhängig von den Besatzungsmächten handeln sollte. Wie kam es dazu?
Mit der Geschichte des parlamentarischen Rates befasst sich unser Artikel „Vor 70 Jahren: der Parlamentarische Rat tritt zusammen“ vom 01.11.2018
Die alliierten Mächte hatten Europa in einem langen, verlustreichen Krieg vom brutalen und menschenverachtenden Regime der Nationalsozialisten befreit. Der Krieg hatte etwa 65 Millionen Menschen das Leben gekostet, darunter mehr Zivilisten als Soldaten. Hinsichtlich der Kriegsschuld gab es anders als nach dem ersten Weltkrieg keinen Zweifel. Der Krieg wurde von Deutschland völkerrechtwidrig begonnen und mit Mitteln geführt, die bis dato in der Weltgeschichte ohne Beispiel waren. Nicht nur die Eroberung anderer Länder, für sich genommen schon völkerrechtswidrig, war das Ziel. Besonders im Osten führten die Deutschen einen Krieg, der auf die Vernichtung ganzer Volksgruppen gerichtet war.
Die Nazis hatten seit Beginn ihrer Herrschaft im Januar 1933 von Anfang an eine Politik betrieben, die auf Krieg und Völkermord zielte. Kern der nationalsozialistischen Ideologie war der Gedanke, dass die Menschen sich in „Rassen“ einteilen ließen, die in einem mörderischen Konkurrenzkampf zueinander stehen. Aufgabe der „arischen Rasse“ als „Herrenrasse“ sei es, „minderwertige Rassen“ zu unterjochen oder sogar zu vernichten.
Mit der Geschichte von Nationalsozialismus, Faschismus und Rassismus hatten wir uns u.a. bereits in folgenden Beiträgen ausführlich auseinandergesetzt:
Reichspogromnacht
Stichtag: 9. November - Ein deutscher Schicksalstag?
08. Mai 1945 - Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus
Deutschland war nach der Befreiung vom Nationalsozialismus völlig diskreditiert. Lange stand in Frage, ob man der Welt überhaupt noch einen souveränen deutschen Staat zumuten kann. Den Männern und den leider erheblich zu wenigen Frauen, die im Auftrag der Alliierten schließlich über die Verfassung eines deutschen Weststaates verhandelten, war klar, dass es galt, Feinden eines demokratischen Rechtsstaates nie wieder die Möglichkeit zu geben, auf angeblich legalem Weg an die Macht zu gelangen.
Die Delegierten im parlamentarischen Rat hatten erkannt, dass eine Wurzel des Übels darin lag, Menschen in verschiedene Kategorien einzuteilen und ihnen unterschiedliche Werte zuzuweisen. Oberstes Gebot der Verfassung wurde deshalb die Verpflichtung des neuen Staates, die Menschenwürde zu achten und zu schützen. Gleich der erste Artikel des Grundgesetzes garantiert, dass die k:Würde des Menschen:k von niemandem angetastet werden darf. Bewusst wählten die Mütter und Väter des Grundgesetzes den Begriff „Mensch“. Es ging ihnen nämlich nicht nur um die Würde deutscher Staatsbürger. Der Staat verpflichtete sich vielmehr, die Würde aller Menschen unabhängig von ihrer Herkunft, ihrem Aussehen, ihrem Status oder ihrem Geschlecht zu achten und zu schützen.
Regelmäßig weist das BVerfG darauf hin, dass mit der Menschenwürde der soziale Wert- und Achtungsanspruch des Menschen verbunden sei, der es verbiete, ihn zum bloßen Objekt des Staates zu machen oder ihn einer Behandlung auszusetzen, die seine „Subjektqualität“ prinzipiell in Frage stelle. Menschenwürde in diesem Sinne sei nicht nur die individuelle Würde der jeweiligen Person, sondern die Würde des Menschen als Gattungswesen. Jeder besitze sie, ohne Rücksicht auf seine Eigenschaften, seine Leistungen und seinen sozialen Status. Sie sei auch dem eigen, der aufgrund seines körperlichen oder geistigen Zustands nicht sinnhaft handeln könne. Selbst durch "unwürdiges" Verhalten gehe sie nicht verloren. Sie könne keinem Menschen genommen werden.
Problematisch ist aber, was im Einzelnen zur Würde eines Menschen dazugehört. Insoweit tut sich die Rechtsprechung, auch die des BVerfG, zuweilen etwas schwer. Einerseits verkennt das BVerfG nicht, dass die Würde des Menschen etwas ist, das sich nicht gegen andere Grundrechte abwägen lässt. Für einen Eingriff in dieses Grundrecht gibt es keine Rechtfertigung. Andererseits wird aus der Rechtsprechung des BVerfG nicht klar, welchen Inhalt das Grundrecht genau hat. Insoweit entscheidet das BVerfG immer in Einzelfall, ob die Würde verletzt ist. Ausgangspunkt ist zumeist die oben beschriebene Formel von der „Subjektqualität“: Würde bedeutet, dass der Mensch zuallererst als jemand betrachtet wird, der handelt und nicht als jemand, mit dem man etwas macht oder mit dem etwas geschieht. So wirklich hilfreich ist die Formel allerdings nicht immer. Menschen sind regelmäßig auch immer Objekt staatlichen Handelns, etwa als Steuerzahler, als Verurteilter oder Empfänger eines Bescheides der Bundesagentur für Arbeit, ohne dass das ernsthaft als Angriff auf die Würde gelten kann.
Die Pflicht des Staates, die Menschenwürde zu achten und zu schützen, bezieht sich aber nicht nur auf innerstaatliches Handeln. Die Bundesrepublik Deutschland darf auch international nicht in einer Weise handeln, die die Würde von Menschen verletzt, die in anderen Ländern leben. Sie ist auch verpflichtet, bei ihrer Flüchtlingspolitik nicht in erster Linie wirtschaftliche Erwägungen zugrunde zu legen, sondern alles daran zu setzen, dass auch die Würde der Menschen, die aus Not zu uns kommen wollen, geschützt und geachtet wird. Mit anderen Worten: unser Land darf seine Interessen nicht egoistisch vertreten, sondern muss stets sein Handeln daran ausrichten, dass nirgendwo auf der Welt die Würde irgendeines Menschen angetastet wird. Gemäß der oben beschriebenen Formel des BVerfG ist der soziale Wert- und Achtungsanspruch des Menschen auch bei Menschen zu beachten, die nicht in unserem Land leben, von dessen Politik aber in irgendeiner Weise unmittelbar oder mittelbar betroffen sind. Auch sie dürfen nicht zum bloßen Objekt degradiert werden. „Germany first“ wäre nach unserem Selbstverständnis also ausgeschlossen.
Nun könnte man einwenden, das Grundgesetz sei ja schon häufig geändert worden. Artikel 1 könnte eine deutliche Mehrheit im Bundestag doch so modifizieren, dass Deutschland seine Interessen wieder „ohne Rücksicht auf Verluste“ durchsetzen könnte. Das geht aber gerade nicht. Unter welchen Voraussetzungen sich das Grundgesetz überhaupt ändern lässt, ist in Artikel 79 geregelt. Dessen Absatz 3 enthält sie sogenannte „Ewigkeitsklausel“:
Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig.
Die Grundsätze, die in Artikel 1 des Grundgesetzes geregelt sind, dürfen also nicht einmal berührt werden. Das gilt solange, wie es die Bundesrepublik Deutschland geben wird. Selbst einstimmig kann also der Bundestag auch bei ebenfalls einstimmiger Zustimmung des Bundesrates den Grundsatz der Menschenwürde in irgendeiner Weise relativieren.
Die Pflichten, die Artikel 1 dem Staat auferlegt, sind sehr umfassend. Alles staatliche Handeln, sei es beim Erlassen von Gesetzen, sei es bei der Ausübung der Staatsgewalt durch Behörden oder beim Handeln der Gerichte muss immer so ausgerichtet werden, dass Menschenwürde nicht verletzt wird. Selbst Straftäter besitzen Würde, die der Staat achten und schützen muss.
Artikel 1 Grundgesetz (GG) ist aber nicht lediglich eine objektive Verfassungsnorm, die Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht bindet. Die Würde des Menschen ist vielmehr ein eigenständiges Grundrecht, auf das sich der Einzelne auch berufen kann. Es stellt zudem ein oberes Prinzip dar, aus dem sich im Grunde alle weiteren Grundrechte gleichsam ableiten. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat bereits in seinem „Elfes-Urteil“ von 1957 betont, dass Art. 1 GG zu den tragenden Konstitutionsprinzipien gehört, die alle Bestimmungen des Grundgesetzes beherrschen. Die Würde des Menschen ist somit so etwas wie das „Grundgesetz des Grundgesetzes“.
Die Achtung der Würde des Menschen ist aber nicht nur für den Staat verpflichtend. Zwar dienen Grundrechte in erster Linie dazu, sich gegen den Staat zu wehren, wenn er sie missachtet. Sie sollen vor allem die Freiheitssphäre des Einzelnen vor Eingriffen der öffentlichen Gewalt sichern. Bereits 1953 hat das BVerfG aber in seinem „Lüth-Urteil“ betont, dass sich in den Grundrechtsbestimmungen des Grundgesetzes aber auch eine objektive Wertordnung verkörpert, die als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gilt. Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung empfangen von dieser Wertordnung Richtlinien und Impulse. So beeinflusse sie selbstverständlich auch das bürgerliche Recht. Keine Vorschrift dürfe in Widerspruch dazu stehen, jede müsse in ihrem Geiste ausgelegt werden.
Im Ergebnis bindet also die Achtung der Menschenwürde das Handeln von uns allen. Uns ist durch das Grundgesetz ein Höchstmaß an Freiheit garantiert. Aber keines unserer Freiheitsrechte erlaubt es uns, die Würde eines anderen Menschen zu missachten.
Die vom Grundgesetz garantierte Meinungsfreiheit berechtigt uns etwa nicht nur dazu, eine Meinung zu haben. Wir dürfen sie selbstverständlich auch äußern. Und mehr noch: im bereits zitierten Lüth-Urteil hat das BVerfG betont, dass es gerade der Sinn einer Meinungsäußerung sei, "geistige Wirkung auf die Umwelt" ausgehen zu lassen und "meinungsbildend und überzeugend auf die Gesamtheit zu wirken". Wir dürfen also nicht nur sagen, was wir denken. Wir dürfen mit der Äußerung unserer Meinung auch etwas bewirken wollen. Es ist uns aber nicht erlaubt, andere Menschen herabzuwürdigen und zu beleidigen. Unsere Rechtsordnung gestattet es uns insbesondere auch nicht, Tatsachen über andere Menschen zu verbreiten, die dazu dienen, sie herabzuwürdigen, insbesondere keine Unwahrheiten („Fake News“).
Die Würde des Menschen beauftragt den Staat aber auch, allen in unserem Land lebenden Menschen die freiwillige Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu ermöglichen. Das ergibt sich zusätzlich auch noch aus Artikel 20, nachdem die Bundesrepublik ein sozialer Rechtsstaat ist. Das Prinzip ist wie die Würde des Menschen mit der „Ewigkeitsgarantie“ versehen. Allerdings handelt es sich beim Sozialstaatsprinzip um etwas, was die Jurist*innen „Postulat“ nennen. Die Verfassung gewährt insoweit kein einklagbares Grundrecht, sondern formuliert ein Staatsziel.
Das ändert aber nichts daran, dass die Würde eines Menschen berührt wird, dem der Staat ihm nicht die Möglichkeit bietet, am Leben in der Gesellschaft teilzuhaben. Das dürfte indessen auch kaum streitig sein. Die Frage ist aber, welchen Umfang die Teilhabe haben muss, die dem Menschen ermöglicht wird. Nach derzeit offensichtlich herrschender Auffassung wird die „Subjektqualität“ des Menschen genügend beachtet, wenn seine „Grundbedürfnisse“ wie Wohnen, Essen und Schlafen befriedigt werden. Ob ein derart eingeschränktes Leben allerdings wirklich eine Teilhabe am Leben in einer Gesellschaft darstellt, in der für die meisten der Jahresurlaub oder der regelmäßige Besuch kultureller Veranstaltung normal ist, ist durchaus fraglich.
Für das BVerfG ist die Menschenwürde indessen hinreichend beachtet, wenn Menschen in die Lage versetzt werden, ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen. Im „Grundsicherungsurteil“ vom Februar 2010 führt das BVerfG aus, einem Menschen dürften nicht die notwendigen materiellen Mittel fehlen, die ein menschenwürdigen Dasein gewährleisteten. Der Staat sei im Rahmen seines Auftrages zum Schutz der Menschenwürde und wegen seines sozialstaatlichen Gestaltungsauftrages verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass die materiellen Voraussetzungen dafür dem Hilfebedürftigen zur Verfügung stünden. Im Ergebnis hielt das BVerfG zwar die Höhe der damalig geltenden Regelbedarf bei Hartz IV für verfassungswidrig. Aber nur, weil sie das Existenzminimum der Bedürftigen nicht absicherte. Zu mehr philosophischen Betrachtungen wie die Beurteilung der „Subjektqualität“ ließ sich das BVerfG indessen in diesem Zusammenhang nicht hinreißen. Es steht zu vermuten, dass das bloße Existenzminimum bei einer solchen Betrachtung nicht für ein menschenwürdiges Dasein ausgereicht hätte.
Wir werden uns in diesem Jubiläumsjahr des Grundgesetzes in weiteren Beiträgen noch ausführlich mit einzelnen Grundrechten auseinandersetzen, insoweit sie insbesondere Arbeitnehmer*innen, Beamte, Rentner oder Empfängern von Sozialleistungen betreffen
Quellen und Dokumente zur Vertiefung:
BVerfG, Urteil vom 16. Januar 1957 - 1 BvR 253/56 -, BVerfGE 6, 32-45
BVerfG, Urteil vom 15. Januar 1958 - 1 BvR 400/51 -, BVerfGE 7, 198-230
BVerfG, Beschluss vom 16. Juli 1969 - 1 BvL 19/63 -, BVerfGE 27, 1-10
BVerfG, Beschluss vom 12. November 1997 - 1 BvR 479/92 -, BVerfGE 96, 375-407
BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 27. Dezember 2005 - 1 BvR 1359/05
BVerfG, Beschluss vom 08. November 2006 - 2 BvR 578/02 -, BVerfGE 117, 71-126
BVerfG, Urteil vom 09. Februar 2010 - 1 BvL 1/09 -, BVerfGE 125, 175-260
Johannes Reiter: „Menschenwürde als Maßstab“, Aufsatz auf der Homepage der Bundeszentrale für politische Bildung
Günter Frankenberg: Würde. Zu einem Schlüsselbegriff der Verfassung