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Stichtag: 9. November – Ein deutscher Schicksalstag?

Es gibt eine Vielzahl von herausragenden Ereignissen in Deutschland, die jeweils an einem 09. November stattgefunden haben. In den Medien wird dieser Tag daher häufig als „deutscher Schicksalstag“ bezeichnet. Tatsächlich ereigneten sich zu diesem Datum viele Dinge, die zum Teil einen Wendepunkt in der Geschichte Deutschlands darstellen. Mit „Schicksal“ haben diese Ereignisse allerdings wenig zu tun.

Viele werden sich noch an den 09. November 1989 erinnern. In der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) begehren die Menschen seit Wochen auf. Die Wirtschaft des Landes liegt am Boden. Die meisten Bürger der DDR dürfen nicht reisen, wohin sie wollen. Insbesondere nicht in die Bundesrepublik, dem Land des „Klassenfeindes“. Reisefreiheit war eine der zentralen Forderungen der protestierenden Menschen.
 
Am Abend berichtet ein Mitglied des Politbüros der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), Günter Schabowski, auf eine Pressekonferenz von neuen Regeln für die Ausreise aus der DDR. Die Bürger der DDR sollten zukünftig ohne Visum aus der DDR ausreisen dürfen. Auf die Frage eines italienischen Journalisten, wann die Regelung denn in Kraft treten solle, stammelte Schabowski dann einige Worte, die Geschichte machen sollten: „Das tritt nach meiner Kenntnis… ist das sofort, unverzüglich“.
 
Diese Worte waren für sehr viele Bürger*innen der DDR ein Signal. Zu Tausenden strömten sie zu den Grenzübergängen. Der Druck wurde schließlich für die Staatsmacht der DDR so groß, dass sie die Grenzübergänge öffnete und die Menschen in Massen in den Westen strömten. Die weitergehende Folge war der Fall der Berliner Mauer und schließlich der Zusammenbruch der DDR. Am Ende gab sich der Staat völlig auf und das Parlament der DDR beschloss den Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland zum 03. Oktober 1990.

Der 9. November: ein besonderes Datum

Bereits vor diesen Geschehnissen prägten Historiker für den 9.November den Ausdruck „deutscher Schicksalstag“. Viele historische Ereignisse, die zum Teil Wendepunkte in der deutschen Geschichte darstellten, fanden an diesem Tagesdatum statt: am 09. November 1918 verkündete der damalige Reichskanzler die Abdankung des Kaisers. Karl Liebknecht und Philipp Scheidemann riefen getrennt voneinander die deutsche Republik aus. Der Tag war somit ein bedeutender Tag in der Novemberrevolution.

Mit der Novemberrevolution befasst sich bereits unser Artikel „Der Kaiser ist weg“.
 
Am 09. November 1923 versuchten die Nazis unter Führung von Adolf Hitler und Erich Ludendorff einen Putsch gegen die Reichregierung, der erfolgreich niedergeschlagen wurde.
 
Die Nationalsozialisten inszenierten 1938 die die sogenannten „Novemberpogrome“ gegen jüdische Mitmenschen, die am 09. November 1938 in der „Reichspogromnacht“ ihren Höhepunkt erreichten. Tausende jüdische Geschäfte wurden geplündert, unzählige Synagogen in Brand gesetzt.
 

Der „Volkszorn“ am 09. November 1938 war inszeniert

Am 07.November 1938 schoss ein 17-jähriger polnischer Staatsbürger jüdischen Glaubens auf einen deutschen Diplomaten in Paris. Der Jugendliche gab im Verhör an,  dass er mit dieser Tat gegen die geplante Deportation seiner Eltern protestieren wollte. Am 09.November erlag der Diplomat seinen Verletzungen. Der Jugendliche kam ohne Prozess in ein Konzentrationslager, in dem er später verstarb.

Für die Nazis war das ein willkommener Anlass, ihre Praktiken zur Judenverfolgung zu verschärfen. Propagandaminister Josef Göbbels gab am Abend des 09.November 1938 per Blitztelegramm einen Befehl an die Dienststellen der Sturmabteilung (SA) der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) und die Geheime Staatspolizei (Gestapo) heraus. Erhalten ist insoweit ein Dokument mit folgendem Inhalt.
 
„Sämtliche jüdische Geschäfte sind sofort von SA-Männern in Uniform zu zerstören. Jüdische Synagogen sind sofort in Brand zu stecken, jüdische Symbole sind sicherzustellen. Die Feuerwehr darf nicht eingreifen. Es sind nur Wohnhäuser arischer Deutscher zu schützen, allerdings müssen die Juden raus, da Arier in den nächsten Tagen dort einziehen werden….Der Führer wünscht, dass die Polizei nicht eingreift.“
 
Über tausend Synagogen wurden in dieser Nacht in Brand gesteckt und etwa 7.500 Geschäfte zerstört. An die 100 Personen tötete die SA sofort. Viele Tote gab es in den folgenden Tagen. Mehr als 30.000 jüdische Männer verhafteten die Nazi-Schergen und verschleppen sie in Konzentrationslager.
 

Die Politik der Nazis zielte auf die Vernichtung von Menschen jüdischen Glaubens und anderer Minderheiten

Die Novemberpogrome waren der Auftakt der systematischen Verfolgung von Menschen jüdischen Glaubens. Zwar diskriminierten die Nazis seit Beginn ihrer Herrschaft 1933 jüdische Mitbürger sofort. Mit Gesetzen wie den Nürnberger Gesetzen oder dem Gesetz zu Wiederherstellung des Berufsbeamtentums grenzten sie Juden sukzessive von der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft aus.  Aus Rücksicht auf internationale wirtschaftliche Interessen vermieden die Nazis zunächst eine Eskalation. Mit den Novemberpogromen begannen die deutschen Machthaber dann aber mit der gezielten Vernichtung von Menschen jüdischen Glaubens und anderer Minderheiten.

Die Reichspogromnacht, euphemistische lange Zeit als „Reichskristallnacht“ bezeichnet“, war also eine geplante und zielgerichtete Maßnahme der SA. In der Bevölkerung kam die Aktion, anders als von den Nazis erwartet, nicht gut an. Zwar war Antisemitismus im deutschen Bürgertum stark verbreitet und salonfähig. Das pöbelhafte Auftreten der SA schreckte die meisten aber ab. Selbst Hermann Göring sah sich veranlasst, sich öffentlich von zunächst einmal von der „wilden und ungesetzlichen“ Aktion zu distanzieren. Heute wird von Historikern aber kaum noch bezweifelt, dass die Pogrome von der Partei vorbereitet und organisiert wurden.
 
Deutlich wird das bereits dadurch, dass die Reichsregierung „den Juden“ die Schuld an den Ausschreitungen gab. Durch Verordnungen legte sie ihnen auf, eine „Sühneleistung“ in Höhe von einer Milliarde Reichsmark (heutiger Wert: etwa 4 Milliarden Euro) zu leisten. Sie wurden verpflichtet, auf eigene Kosten alle durch die Pogrome verursachten Schäden sofort zu beseitigen. Durch Versicherungen bezahlte Entschädigungen mussten betroffene Juden an das Reich abführen.
 

Ein Gedenktag gegen Rassismus und Antisemitismus sowie für Demokratie und Rechtstaatlichkeit

Auch weniger einschneidende, aber auch nicht unbedeutende Dinge ereigneten sich an einem 09. November. Anlässlich der Amtseinführung des neuen Rektors der Hamburger Universität entfalten Studenten am 09. November 1967 ein Transparent mit der Aufschrift „unter den Talaren der Muff von tausend Jahren“. Dieser Spruch spielte auf die mangelnde Aufarbeitung der Rolle der Universitäten im ‚Dritten Reich` an und wurde zu einem wichtigen Symbol der 1968er-Bewegung. In der Folge der islamistischen Terroranschläge in New York und Washington beschließt der Deutsche Bundestag am 09. November 2001 das Anti-Terror-Gesetz, in dem unter anderem das Religionsprivileg im Vereinsrecht abgeschafft wird. Am 09. November 2007 verabschiedet der Deutsche Bundestag das umstrittene Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung.

Viele wichtige Ereignisse der deutschen Geschichte fanden also an einem 09. November statt. Mit Schicksal haben diese Ereignisse indessen wenig zu tun. Ein Schicksal ist ein Geschehen, das sich der Entscheidungsfreiheit der Menschen entzieht. Dieses Merkmal trifft auf keines der Geschehnisse des 09. November zu. Es hat sich weder ein Erdbeben noch eine Sturmflut ereignet. Es waren Menschen die entschieden haben, andere Menschen zu terrorisieren und zu verfolgen oder jedenfalls nichts dagegen zu unternehmen. Es waren auch Menschen, die sich gegen die Unterdrückung durch das preußische Junkertum oder die DDR-Administration aufgelehnt haben.
 
Der 09. November ist aber ein Tag, der dafür steht, dass wir alle die Verantwortung für die Zukunft tragen. Wir alle können gemeinsam durch unsere Entscheidungen und unser Verhalten dazu beitragen, dass die Welt nicht durch Kriege oder Klimakatastrophen zerstört wird. Wir alle haben Einfluss darauf, wie mit andersdenkenden Menschen und mit Minderheiten umgegangen wird. Wir können uns aktiv gegen deren Ausgrenzung und Diskriminierung zur Wehr setzen. Die Geschichte hat gezeigt, dass nicht Andersdenkende und Minderheiten die Wurzel allen Übels sind, sondern im Gegenteil sind deren Verfolgung und Ausgrenzung Teil des Übels. Unmenschlich und unwürdig ist ein solches Verhalten zudem. Das sei insbesondere den Menschen unter die Großhirnrinde geschoben, die meinen, die Migration sei die „Mutter der Probleme“. Wenn es eine solche Mutter gibt, sind es indessen Rassismus und Antisemitismus.
 

Rassismus und Antisemitismus haben Geschichte

Die Nationalsozialisten verfolgten von Anfang an eine brutale antisemitische Politik. Der Antisemitismus war allerdings kein Alleinstellungsmerkmal der Nazis. Angehörige jüdischen Glaubens waren bereits im Mittelalter Ziel von Pogromen. Die jüdische Minderheit bildete in den Städten eine besondere Gruppe, die aus dem mittelalterlichen Zunftwesen ausgeschlossen war. Ihre Angehörigen konnten deshalb bürgerliche Berufe etwa im Handwerk nicht ergreifen. Deshalb verrichteten Menschen jüdischen Glaubens vielfach Tätigkeiten, die Christen aus religiösen Gründen nicht erlaubt waren. Hierzu gehörte insbesondere Geldgeschäfte und Handel. Auch war es Menschen jüdischen Glaubens verboten, Ackerbau zu betreiben. Das zwang sie gleichsam dazu, in Städten zu leben, um dort für ihren Broterwerb die wenigen ihnen zur Verfügung stehenden Berufe auszuüben.

Im Mittelalter war der katholische Glaube in Europa beherrschend und bildete somit eine Einheit mit der politischen Herrschaft. Jüdische Gemeinden standen außerhalb der Mehrheitsgesellschaft. Nicht aus eigenem Antrieb, sondern weil sie ausgegrenzt wurden. In vielen Städten mussten Juden in abgegrenzten Stadtvierteln leben. Aufgrund ihres Sonderstatus eigneten sie sich als Sündenböcke. Sie wurden für allerlei Unbill verantwortlich gemacht, vom schlechten Wetter bis zur Pest.
 

Pogrome und Ausschreitungen gegen Juden gab es bereits im Mittelalter

Sehr stark Verfolgungen ausgesetzt waren die Juden vor allem seit den Kreuzzügen, in deren Folge viele von ihnen ermordet wurden. Es ging aber in erster Linie um Glauben: sie wurden vor allem unter Druck gesetzt, zum Christentum zu konvertieren. Die Vorstellung einer „jüdischen Rasse“ gab es damals noch nicht.

Bis in das 16. Jahrhundert hinein kam es immer wieder zu Ausschreitungen und Vertreibungen von Menschen jüdischen Glaubens. Diese waren oft religiös begründet, hatten aber auch wirtschaftliche Aspekte. Im Spätmittelalter veränderten sich die gesellschaftlichen Strukturen allmählich. Handel und Finanzgeschäfte wurden immer bedeutender und waren zu Beginn der Neuzeit bereits ein die Gesellschaft stark beherrschender Wirtschaftsfaktor. Gleichzeitig ging die Bedeutung der Religion erheblich zurück. Mit der Reformation verlor die katholische Kirche nach und nach ihre Deutungshoheit über das was richtig und falsch ist. Das Zinsverbot wurde auch für Katholiken gelockert. Bereits zuvor wurden es ihnen auch erlaubt worden, mit Handelsgeschäften ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.

Die Situation von Menschen jüdischen Glaubens verbesserte sich in der Neuzeit

Mit wirtschaftlichen und politischen Veränderungen und insbesondere in Folge der Französischen Revolution besserte sich auch die Situation des Bevölkerungsteils jüdischen Glaubens bis hin zur völligen rechtlichen Gleichstellung in fast allen europäischen Ländern.

Den Begriff „Antisemitismus“ gibt es freilich erst seit dem 19. Jahrhundert und ist eng verknüpft mit dem Konzept des Nationalstaates. Ein solcher setzt zwei Grundbedingungen voraus: ein Staat und eine Nation. Staaten im rechtlichen Sinne als Gebietskörperschaft bildeten sich in Europa erst seit der frühen Neuzeit. Der Begriff „Nation“ taucht etwa im 15.Jahrhundert auf. Was darunter zu verstehen ist, war nie eindeutig definiert. Geprägt war er von der Vorstellung, dass es Bevölkerungsgruppen gibt, die hinsichtlich Sprache, Kultur und Brauchtum gewisse Gemeinsamkeiten haben. Nach dieser Vorstellung ist ein Nationalstaat also ein Staat, in dem ausschließlich oder zumindest überwiegend Menschen mit diesen Gemeinsamkeiten leben.
 
In der Französischen Revolution wurde die Nation noch im demokratischen Sinne verstanden. Sie bestand nach den Vorstellungen der Revolutionäre nicht gleichsam von Natur aus, sondern wird erst durch einen revolutionären Akt politisch gebildet. Für alle Mitglieder der Nation sollten die Grundsätze „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ gelten. Etwa zur gleichen Zeit sagten sich im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg 13 Kolonien vom britischen Mutterland los und bildeten fortan die USA. Für die Amerikaner war „die Nation“ etwas, was sie dem britischen Kolonialismus gegenüber stellten.
 
Es würde an dieser Stelle etwas zu weit führen, die Geschichte des Nationenbegriffs vollständig wieder zu geben. Klar ist aber, dass er ein politischer Begriff ist, der letztlich nicht zur Demokratisierung der Gesellschaft beiträgt. Von Anfang an zielte das Konzept der Nation auf Ausgrenzung. Menschen, die nach den Vorstellungen politischer Entscheidungsträger nicht dazu gehörten, sollten am besten verschwinden oder sich mit einer unterordnenden Rolle zufrieden geben.
 

Die Einteilung der Menschen nach Rassen ist erst seit Beginn der Neuzeit bekannt

Die Vorstellung, Menschen könnten unterschiedlichen Rassen zugeordnet werden, ist ebenfalls noch nicht sehr alt. Literarisch tauchte der Begriff überhaupt erst im 15. Jahrhundert auf. Der spanische Priester Alfonso Martínez de Toledo hat ihn gebraucht, um darzustellen, dass ein Bauer immer ein Bauer bleibt, auch wenn er von einem Adeligen erzogen wird. Die Einteilung von Menschen in Rassen diente also ursprünglich dazu, soziale Unterschiede zu begründen. Die „Rasse der Fürsten“ war nach dieser Definition höherwertiger als die „Rasse der Bauern“.

In unterschiedlichen Gesellschaften wurde in der Folge die Bezeichnung „Rasse“ in Bezug auf Menschen unterschiedlich gebraucht. Auffällig ist, dass sie stets dazu diente, die Überlegenheit einer Gruppe von Menschen einer anderen gegenüber zu erklären. Die Einteilung von Menschen in Rassen ist also auch politisch und dient letztlich der Sicherung von Herrschaft.
 

Rasse als Legitimation europäischen Machtstrebens

Relevant als wurde der Rassismus in der Zeit der großen Kolonialreiche. Die christlich geprägten europäischen Mächte benötigten eine als Wissenschaft verkleidete Legitimation der Kolonialisierung Afrikas und Südamerikas sowie für die Versklavung von Millionen von Afrikanern. Zur Erklärung der Überlegenheit der Europäer übernahmen Geisteswissenschaftler das Rassenkonzept aus den Naturwissenschaften. Der „weißen Rasse“ wurden gegenüber anderen „Rassen“ geistige und moralische Überlegenheit zugeschrieben, die ihre Herrschaft rechtfertigen sollte.

Im 19. Jahrhundert erreichte der theoretische Rassismus einen ersten Höhepunkt, insbesondere ausgehend von einem Werk des deutsch-britischen Publizisten Houston Stewart Chamberlain. Für Chamberlain war die Menschheitsgeschichte eine Geschichte des „rassischen Gegensätze“. Auch der sogenannte „Sozialdarwinismus“ spielte im sozialwissenschaftlichen Diskurs eine große Rolle. Aus der Evolutionstheorie folgerten Sozialwissenschaftler wie etwa Ernst Haeckel, dass es bei der gesellschaftlichen Entwicklung ähnliche Prozesse gebe wie bei der Entstehung der Arten. Gesellschaftlicher Fortschritt sei durch den „Überlebenskampf“ von Nationen und Rassen bedingt.
 

Aus Erkenntnissen von Sprachwissenschaftlern folgerten einige, es gebe eine „arische Herrenrasse“

Sprachwissenschaftler hatten ebenfalls im 19. Jahrhunderts herausgefunden, dass indoiranischen Sprachen, insbesondere die altindische Sprache Sanskrit und die meisten europäischen Sprachen dieselben Wurzeln haben müssen. Diese Sprachen bezeichneten die Wissenschaftler früher als „arische Sprachen“. Die Vertreter des Rassismus folgerten daraus, es habe eine „arische Urrasse“ gegeben, aus der u.a. die Europäer hervorgegangen seien. Für Chamberlain war das „deutsche Volk“ die „reinste Ausprägung der arischen Rasse“. Überhaupt wurden von den Vertretern rassistischer Theorien Begriffe wie „Volk“, „Rasse“ und „Nation“ vermischt und synonym gebraucht. Die Nation war nicht mehr wie in der französischen Revolution ein Verband, der aktiv von den Menschen gebildet wird, die dazu gehören wollen. Sie wurde vielmehr als „Abstammungsgemeinschaft“ betrachtet.
 
Im Nationalsozialismus wurden diese seltsamen und zum Teil wirren Theorien radikalisiert und zur Staatsräson. Das „deutsche Volk“ als „reinste Ausprägung der arischen Herrenrasse“ habe die geschichtliche Aufgabe, über unterlegene Völker zu herrschen und diese zu versklaven. Besonders niederwertige „Rassen“, zu denen auch die Juden gehörten, seien im Interesse des „Überlebenskampfes des deutschen Volkes“ sogar zu vernichten.
 

Die Befreiung vom Nationalsozialismus hat den Rassismus nicht beseitigt

Nach der Befreiung vom Nationalsozialismus war der Rassismus in Deutschland keineswegs überwunden. Politisch und wissenschaftlich war er als Theorie zwar diskreditiert. An der Existenz unterschiedlicher menschlicher Rassen gab es aber weitgehend keinen Zweifel. Auch wurde weiterhin Menschen unterschiedlicher Herkunft bestimmte Charaktereigenschaften zugeschrieben.
 
Alle rassistischen Theorien sind indessen nicht nur wissenschaftlich äußerst fragwürdig. Die Übertragung der Evolutionstheorie auf gesellschaftliche Prozesse und die geschichtliche Entwicklung war sogar blanker Unsinn. Von Anfang an gab es keinerlei Anhaltspunkte, die überhaupt die Annahme rechtfertigen könnten, dass gesellschaftliche Entwicklung sich nach natürlichen Gesetzmäßigkeiten vollzieht. Es gibt zudem keinerlei Hinweise darauf, dass die Zugehörigkeit zu einer „Rasse“ einen Rückschluss auf Charaktereigenschaften oder gar der Wertigkeit von Menschen zulässt.
 

Die Annahme, es gebe verschiedene Menschenrassen, ist widerlegt

Theorien sind nur dann ernst zu nehmen, wenn sie in der Wirklichkeit überprüft werden können. Der österreichisch-britische Philosoph Karl Popper hat insoweit eine einleuchtende Methode vorgeschlagen. Nach seiner Auffassung können wissenschaftliche Theorien durchaus frei erfunden werden. Sie müssen nur in sich widerspruchsfrei sein und Aussagen treffen, die in der Praxis überprüft und prinzipiell widerlegt werden können.

Eine grundlegende Aussage aller Rassismustheorien ist, dass es menschliche Rassen gibt. Insoweit lohnt es sich also, sich mit den Forschungsergebnissen in der Biologie auseinander zu setzen.
 
Die vererbbaren Informationen in der Zelle eines Lebewesens, die Chromosomen und die Desoxyribonukleinsäure (DNS oder DNA), werden als „Genom“ oder „die Gene“ bezeichnet. Das menschliche Genom wurde 2007 vollständig entschlüsselt. Ein wichtiges Ergebnis war, dass der genetische Code des Menschen keine Rassen bestimmt. An der Entschlüsselung war der  amerikanische Biochemiker John Craig Venter maßgeblich beteiligt. Bei der Veröffentlichung der Forschungsergebnisse gab er bekannt, dass es mehr Unterschiede zwischen Menschen schwarzer Hautfarbe als zwischen Menschen schwarzer und heller Hautfarbe gebe. Auch gebe und es mehr Unterschiede zwischen den sogenannten „Kaukasiern“ als zwischen Kaukasiern und Nicht-Kaukasiern.
 
Es gilt seitdem in der Biologie als obsolet, dass es menschliche Rassen gibt. Damit ist bereits in grundlegendste Aussage aller Rassismustheorien widerlegt.

Der Rassismus bekommt ein neues Gesicht

Selbst eingefleischte Rassisten unter den Geisteswissenschaftlern mussten inzwischen einsehen, dass sie sich mit dem Konzept, aus der Zugehörigkeit zu einer menschlichen Rasse folgten Charaktereigenschaften, völlig vergaloppiert hatten. Der Begriff „Rasse“ wird insbesondere von der „neuen Rechten“ deshalb zunehmend vom Begriff der „Ethnie“ ersetzt. Die Unterschiede werden nicht mehr in den Genen gesucht. Eine Ethnie soll vielmehr eine abgrenzbare soziale Einheit sein, die aufgrund ihrer Sprache und ihrer kulturellen Gepflogenheiten eine bestimmte Volksgruppe bilden.

Die Vertreter des „modernen Rassismus“ behaupten, die so gebildeten ethnischen Gruppen dürften nicht vermischt werden. Vielmehr müssten sie räumlich voneinander getrennt werden, damit sie nicht ihre kulturelle Eigenart verlören. Diese vielleicht bei erster Betrachtung plausibel erscheinende Auffassung verkennt aber völlig die Dynamik, mit der sich auch Kultur entwickelt. Sie ist beileibe nichts Statisches. Die westdeutsche Alltagskultur der 50er und der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts war jeweils schon sehr unterschiedlich. Die in der DDR gelebte Kultur war eine völlig andere als die in der Bundesrepublik bis 1990 gelebte Kultur. Auch wird Kultur stets „von außen“ mit beeinflusst, etwa über die Musik, über Spielfilme und Serien sowie über Literatur.
 

Alltagskultur wandelt sich stetig

Besonders seit dem 20. Jahrhundert verändert sich unsere Alltagskultur zunehmend rasant.  Veränderungen und Anpassungen gab es aber seit Menschengedenken. Das, was wir als deutsche Eigenarten verstehen, ist beeinflusst insbesondere von Migrationsbewegungen, die mit unterschiedlicher Intensität in Mitteleuropa immer schon stattgefunden haben, ob mit der sogenannten „Völkerwanderung“ oder dem massenhaften Einwanderungen nach Deutschland im Zuge der Industrialisierung, insbesondere aus Osteuropa.

Die Vorstellung, es gebe ein deutsches Volk, das in direkter Linie von Germanen abstammt ist ebenso unsinnig, wie der Glaube, Franzosen seien so etwas wie moderne Gallier. Deutsche wie Franzosen sind Angehörige sozialer Gruppen, die sich mit der Bildung von Flächenstaaten politisch gebildet haben.
 
Auch die Einteilung von Menschen nach Ethnien ist nichts anderes als Rassismus. Es gibt vielmehr keinen erkennbaren Grund, Menschen überhaupt zu kategorisieren. Ihre Fähigkeiten und Charaktereigenschaften hängen weder von den Genen noch von der Zugehörigkeit zu einer Ethnie ab. Zur Zeit der Französischen Revolution wurde derjenige als Franzose betrachtet, der Franzose sein wollte und sich zu den Grundwerten der Revolution (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit) bekannte. Das ist ein weitaus menschlicher Ansatzpunkt als die pseudowissenschaftlich Einteilung von Menschen nach Ethnien oder Rassen.
 

Kulturelle Vielfalt macht erfolgreich!

Zum Schluss ein Zitat aus der deutschen Literatur. Der Schriftsteller Carl Zuckmayer hat in seinem Roman „Des Teufels General“ Europa als Völkermühle bezeichnet. Die Geschichte spielt während des zweiten Weltkrieges. Ein Offizier, Leutnant Hartmann,  machte sich Sorgen darum, ob er im Zweifel nachweisen könnte, dass er Arier sei, da eine seiner Urgroßmütter aus dem Ausland stammte.  Als er das Problem seinem Kommandanten, General Harras, schilderte, entgegnete dieser:

„Sie kommen doch wie ich aus dem Rheinland……..Und jetzt stellen Sie sich doch mal Ihre Ahnenreihe vor  - seit Christi Geburt. Da war ein römischer Feldhauptmann, ein schwarzer Kerl, braun wie ´ne reife Olive, der hat einem blonden Mädchen Latein beigebracht. Und dann kam ein jüdischer Gewürzhändler in die Familie, das war ein ernster Mensch, der ist noch vor der Heirat Christ geworden und hat die katholische Haustradition begründet.  - Und dann kam ein griechischer Arzt dazu, oder ein keltischer Legionär, ein Graubündner Landsknecht, ein schwedischer Reiter, ein Soldat Napoleons, ein desertierter Kosak, ein Schwarzwälder Flözer, ein wandernder Müllerbursch vom Elsass, ein dicker Schiffer aus Holland, ein Magyar, ein Pandur, ein Offizier aus Wien, ein französischer Schauspieler, ein böhmischer Musikant  - das hat alles am Rhein gelebt, gerauft, gesoffen und gesungen und Kinder gezeugt  - und  - und der Goethe, der kam aus demselben Topf, und der Beethoven und der Gutenberg, und der Matthias Grünewald, und  - ach was, schau im Lexikon nach. Es waren die Besten, mein Lieber! Die Besten der Welt! Und warum? Weil sich die Völker dort vermischt haben. Vermischt  - wie die Wasser aus Quellen und Bächen und Flüssen, damit sie zu einem großen, lebendigen Strom zusammenrinnen. Vom Rhein  - das heißt: vom Abendland. Das ist natürlicher Adel. Das ist Rasse. Seien Sie stolz darauf, Hartmann  - und hängen Sie die Papiere Ihrer Großmutter in den Abtritt. Prost.
 
Zur Vertiefung:

Respekt-Kein Platz für Rassismus  - Website der IG Metall:
Thema Rassismus auf der Website der Bundeszentrale für politische Bildung:
Thema Antisemitismus auf der Website der Bundeszentrale für politische Bildung:
Beitrag zum 09.November auf der Website der Bundeszentrale für politische Bildung:
Unser Artikel „Der Kaiser ist weg“:

Dietmar Christians, Rechtsschutzsekretär und Online-Redakteur, DGB Rechtsschutz GmbH,Hauptverwaltung - Frankfurt am Main
Autor*in:
Dietmar Christians
Online-Redakteur (ehemals Rechtsschutzsekretär)
Onlineredaktion - Hauptverwaltung - Frankfurt am Main