Bundesverfassungsgericht hebt Urteil gegen eine muslimische Kindererzieherin auf, weil die Abmahnung wegen des Kopftuchs rechtswidrig war.
Bundesverfassungsgericht hebt Urteil gegen eine muslimische Kindererzieherin auf, weil die Abmahnung wegen des Kopftuchs rechtswidrig war.

Die Arbeitsgerichte, zuletzt das Bundesarbeitsgericht, hatten die Abmahnung für wirksam gehalten.

Kopftuchverbot per Gesetz

Hintergrund ist das Kita-Betreuungsgesetz in Baden-Württemberg.

Dieses verbietet Beschäftigten in öffentlichen Betreuungs- und Erziehungseinrichtungen „äußere Bekundungen“, die

 

  • die Neutralität der Einrichtung gegenüber Kindern und Eltern gefährden oder
  • den politischen, religiösen oder weltanschaulichen Frieden stören

 
können.
 
Die Stuttgarter Erzieherin ist Muslimin und trägt aus religiöser Überzeugung in der Öffentlichkeit und auch während ihres Dienstes im Kindergarten ein Kopftuch. Die Stadt als Trägerin der Einrichtung sah hierin eine Gefahr für den religiösen Frieden und die Neutralität in dem Kindergarten und hat sie deshalb aufgefordert, ihr Kopftuch während des Dienstes abzulegen.
 
Nachdem sie dieser Aufforderung nicht nachgekommen war, erhielt sie eine Abmahnung. 

Glaubensfreiheit auch für Musliminnen

Das Bundesverfassungsgericht hat in dem jetzt veröffentlichten Beschluss entschieden, dass die Erzieherin durch die arbeitsgerichtlichen Urteile wegen der Aufrechterhaltung der Abmahnung in ihrem Grundrecht auf Glaubensfreiheit verletzt wurde.
 
Dabei können nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Arbeitnehmer*innen durchaus auch gesetzliche Vorgaben gemacht werden, um die religiöse und weltanschauliche Neutralität in staatlichen Schulen und Erziehungseinrichtungen zu sichern.
 
Wenn dabei aber die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit der betroffenen Beschäftigten beschränkt wird, muss dies zumindest durch eine konkrete Gefahr begründet werden. Eine rein abstrakte, nur theoretisch mögliche Gefährdung der Neutralität oder des Einrichtungsfriedens, reicht dafür nicht aus.

Kopftuch für Muslimin verpflichtend

Das Tragen eines Kopftuches gehört nach dem Verständnis des Grundgesetzes für eine Muslimin zur Ausübung ihres Glaubens und steht deshalb unter dem Schutz des Grundrechts der Glaubensfreiheit. 
 
Die religiös begründete Kleidungsvorschrift ist für Musliminnen nicht eine bloß unverbindliche Empfehlung, sondern wird von den Gläubigen als religiös verpflichtend angesehen.
 
Ein staatliches Verbot der Kopfbedeckung stellt deshalb einen schwerwiegenden Eingriff in die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit nach Artikel 4 des Grundgesetzes dar.

Gefahr durch Kopftuch?

Um diesen Eingriff zu rechtfertigen, müssen nach der Grundrechtssystematik die Grundrechte anderer oder sonstige durch die Verfassung geschützten Rechtsgüter betroffen sein. Im Fall der Erzieherin mit Kopftuch kommen dabei das staatliche Neutralitätsgebot, das Erziehungsgrundrecht der Eltern und die negative Glaubensfreiheit (das Recht, nichtreligiös zu leben) der Kinder in Betracht.
 
Bei der Abwägung dieser Rechtspositionen kommt das Bundesverfassungsgericht zu dem klaren Ergebnis, dass die Einschränkung der Glaubensfreiheit bzw. konkret ein Kopftuchverbot nur dann zulässig sein kann, wenn auch eine konkrete Gefahr für andere Verfassungsrechte besteht.
 
Allein die theoretische Befürchtung, dass sich durch eine Erzieherin mit Kopftuch Kinder oder Eltern in ihrer Erziehungs- oder Glaubensfreiheit beeinträchtigt fühlen oder dass der Frieden in der Einrichtung gefährdet sein könnte, kann für ein solch schwerwiegendes Verbot nicht ausreichen.
 
Konkrete Anhaltspunkte für Störungen oder Beeinträchtigungen Anderer durch das Kopftuch der Erzieherin konnte die Stadt aber nicht vorbringen. Somit wurden die Urteile der Arbeitsgerichte aufgehoben, die Klägerin darf weiterhin mit Kopftuch ihre Arbeit als Erzieherin ausüben.

 


Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 18.10.2016, 1 BvR 354/11 hier im Volltext


Lesen Sie auch

Kopftuchverbot für Rechtsreferendarin unzulässig

Pauschales Kopftuchverbot für Lehrer ist verfassungswidrig

Konfessioneller Träger muss Entschädigung an nicht getaufte Bewerberin zahlen

Das sagen wir dazu:

Die jetzt veröffentlichte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts war nicht überraschend, nachdem bereits im vergangenen Jahr ein vergleichbares Urteil ergangen war: Damals war eine ähnliche Regelung für Lehrerinnen an öffentlichen Schulen als verfassungswidrig erklärt worden.
 
Wenn aber bereits bei Lehrerinnen ein allgemeines und pauschales Kopftuchverbot einen Verstoß gegen die Glaubensfreiheit darstellt und unzulässig ist, dann muss das erst Recht für Erzieherinnen in Kindergärten gelten. Denn der Schulpflicht können sich weder Schüler noch Eltern entziehen, so dass dort die staatliche Neutralitätspflicht noch wesentlich mehr Gewicht hat.
 
Warum allein das Tragen eines Kopftuches in irgendeiner Weise eine ernsthafte Störung der Einrichtung oder der Kinder und deren Eltern mit sich bringen sollte, konnten auch die Stadt Stuttgart oder das Land Baden-Württemberg dem Gericht nicht erklären.
 
Spannend wäre der Fall verfassungsrechtlich und politisch wieder, wenn es nicht um ein Kopftuch, sondern um eine Burka ginge. Auch hier würde ein Verbot wohl einen Eingriff in die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit darstellen. Eine konkrete Störung des politischen, weltanschaulichen und religiösen Friedens in einer Einrichtung ließe sich dabei aber sicher eher begründen.

Rechtliche Grundlagen

§ 7 Abs. 8 Kindertagesbetreuungsgesetz Baden-Württemberg

[...]
(8) Fachkräfte im Sinne der Absätze 2 und 4 Satz 2 sowie Zusatzkräfte dürfen in Einrichtungen, auf die dieses Gesetz Anwendung findet und die in Trägerschaft des Landes, eines Landkreises, einer Gemeinde, einer Verwaltungsgemeinschaft, eines Zweck- oder Regionalverbandes stehen, keine politischen, religiösen, weltanschaulichen oder ähnliche äußeren Bekundungen abgeben, die geeignet sind, die Neutralität des Trägers gegenüber Kindern und Eltern oder den politischen, religiösen oder weltanschaulichen Frieden in Einrichtungen, auf die dieser Absatz Anwendung findet, zu gefährden oder zu stören. Insbesondere ist ein äußeres Verhalten unzulässig, welches bei Kindern oder Eltern den Eindruck hervorrufen kann, dass eine Fachkraft oder eine andere Betreuungs- und Erziehungsperson gegen die Menschenwürde, die Gleichberechtigung der Menschen nach Artikel 3 des Grundgesetzes, die Freiheitsgrundrechte oder die freiheitlich-demokratische Grundordnung auftritt. Die Wahrnehmung des Auftrags nach Artikel 12 Abs. 1 der Verfassung des Landes Baden-Württemberg zur Erziehung der Jugend im Geiste der christlichen Nächstenliebe und zur Brüderlichkeit aller Menschen und die entsprechende Darstellung derartiger Traditionen widerspricht nicht dem Verhaltensgebot nach Satz 1.