Europäischer Gerichtshof: Fahrzeit zur Arbeit kann Arbeitszeit sein
In dem vom Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) entschiedenen Fall müssen die Arbeitnehmer*innen eines spanischen Unternehmens täglich von ihrem Wohnort zu den verschiedenen Kundenstandorten fahren, nachdem die regionalen Büros geschlossen worden waren. Es gibt also keinen festen oder gewöhnlichen Arbeitsort mehr.
Arbeitgeber wertet Anfahrt als Ruhezeiten
Den Fahrplan erhalten die Arbeitnehmer*innen jeweils am Vortag des Einsatzes. Das Unternehmen rechnet die täglichen Fahrten vom Wohnort zum ersten Kunden und vom letzten Kunden zum Wohnort nicht als Arbeitszeit, sondern als Ruhezeit ab.
Das mit der Rechtssache befasste spanische Gericht legte dem EuGH im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens die Frage vor, ob die Zeit, die die Arbeitnehmer*innen für die Fahrten zu Beginn und am Ende des Tages aufwenden, Arbeitszeit im Sinne der "Arbeitszeitrichtlinie" (Richtlinie 2003/88/EG) ist. Der EuGH bejahte dies.
Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH): Ohne festen Arbeitsplatz gehören Anfahrten zur Arbeitszeit
Die Zeit, die Arbeitnehmer*innen ohne festen oder gewöhnlichen Arbeitsort für Fahrten zwischen ihrem Wohnort und dem Standort des ersten und des letzten Kunden des Tages zurücklegen, stellt Arbeitszeit dar.
Denn, so der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) die Arbeitnehmer*innen arbeiten auch während dieser Fahrten. Die Fahrten sind das notwendige Mittel, um am Standort des Kunden die geschuldete Leistung erbringen zu können. Da es keinen festen Arbeitsort gibt, gehören sie gerade untrennbar zum Wesen der ausgeübten Tätigkeit.
Zudem unterliegen die Arbeitnehmer*innen auch während der Fahrtzeiten dem Weisungsrecht ihres Arbeitgebers. Sie können in dieser Zeit nicht frei über ihre Zeit verfügen und eigenen Interessen nachgehen.
Nach der Auffassung des Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) verfälscht die Bewertung der Fahrten zwischen Wohnort und Kunden als Ruhezeit den Begriff der Arbeitszeit und widerspricht dem unionsrechtlichen Ziel des Schutzes der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer.
Anmerkung:
Die Entscheidung des Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) ist zu begrüßen. Es gibt nicht wenige Berufe, bei denen die Arbeitnehmer*innen oft stundenlange Fahrten absolvieren müssen, bevor sie zum Beispiel einen Kunden erreichen oder an einem geschäftlich verpflichtenden Meeting/einer Fortbildung oder ähnlichem teilnehmen bzw. teilzunehmen haben.
Der EuGH hat klar heraus gestellt, dass im Falle des Fehlens eines festen Arbeitsplatzes auch die Fahrten unter die Tätigkeit des Arbeitens fallen. Begründet wird dies damit, dass der zwangsläufig verbundene Beginn der Fahrten am Wohnort ausschließlich Ausdruck des Willens des Unternehmens als Folge der Schließung der Regionalbüros sei und nicht der Arbeitnehmer. Die Bewertung der den Beschäftigen aufgezwungenen Fahrten als Ruhezeiten, verstieße dies gegen die Einhaltung der Gewährleistung einer Mindestruhezeit und damit gegen das oben genannte Ziel der Richtlinie der Schutzes der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer.
Die Entscheidung des Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) vom 10.09.2015 hat großes Interesse gefunden. Ganz so neu ist das Ergebnis dieser Entscheidung jedoch nicht. Denn bereits mit Urteil vom 22.04.2009 hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) mit vergleichbarer Begründung entschieden, dass die Fahrzeiten eines Wartungsmechanikers bezahlt werden müssen. Seltsamer Weise hat diese Entscheidung des BAG mit dem Aktenzeichen 5 AZR 292/08 wenig Berücksichtigung gefunden.
Es ist zu hoffen, dass die jetzige EuGH-Entscheidung dazu beträgt, dass betroffene Arbeitnehmer*innen dann ihre Ansprüche gegenüber ihrem Arbeitgeber geltend machen, wenn sie die sich aus der EuGH vom 10.09.2015 oder der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) vom 22.04.2009 abzulesenden Voraussetzungen erfüllen. Von sich aus werden die wenigsten Arbeitgeber bereit sein,, für Fahrzeiten, die als Arbeitszeit zu bewerten sind, Vergütung zu zahlen.