Ordnet der Arbeitgeber im Betrieb an, wann Arbeitnehmer im Krankheitsfall eine ärztliche Bescheinigung vorzulegen haben, hat der Betriebsrat ein Mitbestimmungsrecht nach § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG. Trifft der Arbeitgeber seine Anordnung gegen eine Vielzahl von Beschäftigten ohne Zustimmung des Betriebsrats, hat dieser einen Beseitigungs- und Unterlassungsanspruch.
Welcher Sachverhalt lag dem Beschluss des LAG Berlin-Brandenburg zu Grunde?
Arbeitgeberin und Betriebsrat streiten darüber, ob dem Betriebsrat ein Mitbestimmungsrecht zusteht, wenn die Arbeitgeberin die Beschäftigten in ihrem Betrieb anweist, schon ab dem ersten Krankheitstag eine ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorzulegen.
Die Arbeitgeberin ist ein Tochterunternehmen der Deutschen Telekom. In ihrem Betrieb H beschäftigt sie rund 200 Mitarbeiter. Zur Belegschaft gehören auch mehrere Beamte der früheren Deutschen Bundespost, denen nach § § 4 Abs. 4 Satz 1 bis 3 PostPersRG eine Tätigkeit bei der Arbeitgeberin zugewiesen wurde. Im Betrieb H. besteht ein Betriebsrat.
Die Arbeitgeberin wendet bezogen auf ihre Arbeitnehmer den Manteltarifvertrag der Deutschen T. AG vom 1. März 2004 (MTV) an. § 21 MTV bestimmt, wann und mit welchen Angaben der Arbeitnehmer die Arbeitsunfähigkeit anzeigen muss.
Im Zeitraum 2010/2011 forderte die Arbeitgeberin mehrere Beschäftigte, die im Zeitraum 2009/2010 mindestens vier Mal Einzel- oder Kurzerkrankungen angezeigt hatten, dazu auf, künftig bereits am ersten Tag der Arbeitsunfähigkeit ein Attest vorzulegen. Gleichzeitig ersuchte sie die Deutsche Telekom AG, mehreren ihr zugewiesenen Beamten eine gleichlautende dienstrechtliche Weisung zu erteilen.
Die Arbeitgeberin hatte den Betriebsrat in H. weder vorab von dieser Maßnahme informiert noch seine Zustimmung eingeholt. Auf seine Aufforderung hin legte die Arbeitgeberin dem Betriebsrat eine Aufstellung der Mitarbeiter vor, denen die Arbeitgeberin Attestauflagen erteilt hatte.
Der Betriebsrat teilte der Arbeitgeberin anschließend mit, dass die Erteilung von Attestauflagen als Maßnahme der betrieblichen Ordnung nach § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG mitbestimmungspflichtig sei. Er forderte die Arbeitgeberin am 8.3.2011 auf, die erteilten Attestauflagen aufzuheben und künftig keine weiteren zu erteilen.
Die Arbeitgeberin vertrat die Ansicht, die Mitbestimmungsrechte würden wegen § 21 Abs. 1 MTV und wegen der Regelung in § 96 Abs.1 BBG nicht eingreifen. Sie sei nach beiden Regelungen im begründeten Einzelfall berechtigt, die Vorlage von Attesten bereits ab dem ersten Krankheitstag zu verlangen.
Der Betriebsrat beantragt beim Arbeitsgericht, der Arbeitgeberin aufzugeben, die erteilten Attestauflagen wieder aufzuheben und künftig entsprechende Weisungen zu unterlassen, im Falle der Zuwiderhandlung der Arbeitgeberin ein Ordnungsgeld anzudrohen. Das ArbG Neuruppin lehnte den Antrag des Betriebsrats mit Beschluss vom 24.8.2011, Aktenzeichen 5 BV 28/11 ab, wobei es sich im Wesentlichen auf die Argumentation der Arbeitgeberin stützte.
Wie hat das LAG Berlin-Brandenburg entschieden?
Auf die Beschwerde des Betriebsrats änderte das LAG Berlin-Brandenburg den Beschluss ab und gab der Arbeitgeberin entsprechend den Anträgen des Betriebsrats auf, die erteilten Attestauflagen wieder aufzuheben und künftig entsprechende Weisungen zu unterlassen, im Falle der Zuwiderhandlung der Arbeitgeberin ein Ordnungsgeld anzudrohen. Dies wurde sowohl für die eigenen Arbeitnehmer als auch für die dem Betrieb zugewiesenen Beamten beschlossen.
Der Betriebsrat hat gegen die Arbeitgeberin wegen zu besorgender Verletzung seines Mitbestimmungsrechts nach § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG einen Anspruch auf die Unterlassung künftigen betriebsverfassungswidrigen Verhaltens. Jede weitere Attestauflage gegenüber den Arbeitnehmern bzw. jede weitere Aufforderung an die Deutsche T. AG, Beamten eine Attestauflage zu erteilen, ohne Zustimmung des Betriebsrates oder ohne Ersetzung der Zustimmung durch den Spruch der Einigungsstelle führt zu einer erneuten Verletzung des Mitbestimmungsrechts des Betriebsrats und ist deshalb zu unterlassen.
Bereits im Jahr 2000 hatte das BAG entschieden (Beschluss vom 25.1.2000 - 1 ABR 3/99) entschieden, dass die nach § 5 Abs 1 Satz 3 EFZG zulässige Anweisung des Arbeitgebers, Zeiten der Arbeitsunfähigkeit schon vor dem dritten Tag durch eine ärztliche Bescheinigung nachzuweisen, eine Frage der betrieblichen Ordnung im Sinne von § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG betrifft. Das danach bestehende Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats wird durch das EFZG nicht ausgeschlossen, denn der Arbeitgeber hat nach § 5 Abs 1 Satz 3 EFZG ja gerade einen Regelungsspielraum in der Frage, ob und unter welcher Form er anordnet, die Arbeitsunfähigkeit vor dem vierten Tag nachzuweisen. Bei entsprechenden Regelungen hat der Betriebsrat daher mitzubestimmen.
Auch der einschlägige Tarifvertrag trifft § 21 MTV keine abschließende Regelung, die ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats ausschließen würde. Soweit der Arbeitgeber den zugewiesenen Beamten in seinem Betrieb eine Weisung erteilen will, ist zu beachten, dass auch der für Beamte einschlägige § 96 des Berufsbeamtengesetzes (BBG) dem Dienstherrn einen Ermessensspielraum eröffnet, wann er einen Nachweis für Krankheitszeiten verlangt.
Da die in der Vergangenheit seitens der Arbeitgeberin ausgesprochenen Attestauflagen bzw. die Aufforderungen an die Deutsche T. AG, Attestauflagen zu erteilen, das Ordnungsverhalten der Arbeitnehmer bzw. der insoweit als Arbeitnehmer geltenden Beamten im Betrieb im Rahmen eines kollektiven Tatbestandes betrafen, ist gemäß § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG durch die Betriebsparteien zu regeln, ob und in welchen Fällen von den Arbeitnehmern bei Fehlzeiten, die nicht länger als drei Kalendertage sind, eine ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorzulegen ist. Aufgrund des Bestehens dieses Mitbestimmungsrechts bedarf daher auch jede weitere Attestauflage bzw. Aufforderung an die Deutsche T. AG, eine solche einem Beamten, der am Standort H. tätig ist, zu erteilen, der Mitbestimmung durch den Betriebsrat, wenn nicht ein Fall vorliegt, in dem für den Arbeitnehmer gemäß § 5 Abs. 1 Satz 2 und 4 EFZG bzw. § 21 Abs. 1 Satz 2 bis 4 MTV nicht bereits ohne Aufforderung eine Verpflichtung zur Vorlage eines Attestes besteht.
Der Betriebsrat hat ferner einen Anspruch, dass die Arbeitgeberin den in den Anträgen zu 1 und 2 genannten Arbeitnehmern und Beamten mitteilt, dass die ihnen erteilten Attestauflagen unwirksam sind.
Auswirkungen der Entscheidung auf die Praxis:
Das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats im Bereich der zwingenden Mitbestimmung kann vom Arbeitgeber nicht einseitig umgangen werden. Verstößt der Arbeitgeber gegen zwingende Mitbestimmungsrechte, kann der Betriebsrat verlangen, dass der Arbeitgeber solche Maßnahmen rückgängig macht. Im Falle der Wiederholung des Verstoßes kann der Betriebsrat gerichtlich ein Ordnungsgeld festsetzen lassen. Die Anordnung, bereits am ersten Tage der Arbeitsunfähigkeit eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorzulegen, greift in erheblichem Maße in die Rechte des Arbeitnehmers ein. Nach der gesetzlichen Regelung ist der Beschäftigte aus gutem Grund hierzu nur verpflichtet, wenn die Arbeitsunfähigkeit voraussichtlich länger als drei Tage dauert. Bei kurzzeitigen Erkrankungen ist es bereits aus medizinischen Gründen selten erforderlich, ärztlichen Rat einzuholen. Eine Anweisung trotzdem eine Bescheinigung vorzulegen, hat daher eine reine Kontrollfunktion. Da die abweichende Anordnung des Arbeitgebers damit die betriebliche Ordnung betrifft, kann der Betriebsrat einer solchen Anordnung die Zustimmung verweigern. Das Mitbestimmungsrecht ist auch nur dann ausgeschlossen, wenn der Arbeitgeber durch eine gesetzliche oder tarifvertragliche Regelung gebunden ist und keinen eigenen Entscheidungsspielraum hat. Eine solche Bindung hat das Gericht im Falle der Vorlagepflicht aber verneint, so dass der Betriebsrat das volle Mitbestimmungsrecht zusteht.
Beschluss des LAG Berlin-Brandenburg vom 19.06.2012, Az: 3 TaBV 2149/11