Kündigungen dürfen vor Abgabe der Massenentlassungsanzeige bei der Agentur für Arbeit unterschrieben werden. Copyright by stockpics / fotolia
Kündigungen dürfen vor Abgabe der Massenentlassungsanzeige bei der Agentur für Arbeit unterschrieben werden. Copyright by stockpics / fotolia


Mit Urteil vom 21. August 2018 hatte das Landesarbeitsgericht (LAG) Baden-Württemberg entschieden, dass der Arbeitgeber vor Einreichung der Massenentlassungsanzeige bei der Agentur für Arbeit die Kündigungen nicht unterschreiben dürfe. Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat diese, insbesondere von der Arbeitgeberseite, kritisierte Entscheidung nunmehr mit Urteil vom 13. Juni 2019 gekippt.

Bisher liegt nur eine Pressemitteilung des BAG vor. Dieser ist zu entnehmen, dass die Massenentlassungsanzeige auch dann wirksam erstattet werden kann, wenn der Arbeitgeber im Zeitpunkt ihres Eingangs bei der Agentur für Arbeit bereits zur Kündigung entschlossen ist. Kündigungen im Massenentlassungsverfahren sind daher, so das BAG, - vorbehaltlich der Erfüllung sonstiger Kündigungsvoraussetzungen - wirksam, wenn die Anzeige bei der zuständigen Agentur für Arbeit eingeht, bevor dem Arbeitnehmer das Kündigungsschreiben zugegangen ist.

Rechtsauffassung des Landesarbeitsgerichts Baden-Württemberg

Mit Beschluss vom 1. Juni 2017 wurde das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Insolvenzschuldnerin eröffnet und der Beklagte zum Insolvenzverwalter bestellt. Die von ihm verfasste Massenentlassungsanzeige ging am 26. Juni 2017 zusammen mit einem beigefügten Interessenausgleich bei der Agentur für Arbeit ein.


Kläger beruft sich auf EuGH Rechtsprechung


Mit Schreiben vom 26. Juni 2017 kündigte der Beklagte das Arbeitsverhältnis des Klägers ebenso wie die Arbeitsverhältnisse der anderen 44 zu diesem Zeitpunkt noch beschäftigten Arbeitnehmer ordentlich betriebsbedingt zum 30. September 2017.

Das Kündigungsschreiben ging dem Kläger am 27. Juni 2017 zu. Dieser macht mit seiner Kündigungsschutzklage unter anderem geltend, nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) habe der Arbeitgeber auch seiner Anzeigepflicht vor einer Entscheidung zur Kündigung des Arbeitsverhältnisses nachzukommen. Darum dürfe die Unterschrift unter das Kündigungsschreiben erst erfolgen, nachdem die Massenentlassungsanzeige bei der Agentur für Arbeit eingegangen sei.

Landesarbeitsgericht hebt erstinstanzliche Entscheidung auf


Das LAG folgte der Argumentation des Klägers und gab der Berufung des Klägers gegen das klageabweisende Urteil des Arbeitsgerichts statt. Die Anzeige, so das Berufungsgericht, müsse die Agentur für Arbeit erreichen, bevor der Arbeitgeber die Kündigungsentscheidung treffe, was sich in der Unterzeichnung des Kündigungsschreibens manifestiere.


Revision der Beklagten führt zur Zurückweisung an das LAG


Die Revision des Beklagten hatte vor dem BAG Erfolg. Sie führte zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LAG.

Das selbstständig neben dem nach § 17 Abs. 2 KSchG durchzuführenden Konsultationsverfahren stehende, in § 17 Abs. 1, Abs. 3 Sätze 2 bis 5 KSchG geregelte Anzeigeverfahren diene, so das BAG, beschäftigungspolitischen Zwecken.

Um sich auf die Entlassung einer größeren Anzahl von Arbeitnehmern vorbereiten und ihre Vermittlungsbemühungen darauf einstellen zu können, sei es notwendig, dass die Agentur für Arbeit rechtzeitig über eine bevorstehende Massenentlassung unterrichtet wird.
Das setzte voraus, dass bereits feststehe, wie viele und welche Arbeitnehmer konkret entlassen werden sollen. Auf den Willensentschluss des Arbeitgebers zur Kündigung kann, soll und will die Agentur für Arbeit - anders als der Betriebsrat im Rahmen des Konsultationsverfahrens - keinen Einfluss nehmen.

Allerdings dürfe die Kündigung erst dann erfolgen, also dem Arbeitnehmer zugehen, wenn die Massenentlassungsanzeige bei der zuständigen Agentur für Arbeit eingegangen sei. Dies sei durch die Rechtsprechung des EuGH zur Massenentlassungsrichtlinie geklärt, so dass das BAG von der Einholung einer Vorabentscheidung durch den EuGH meinte Abstand nehmen zu können.

Anhand der bisher getroffenen Feststellungen könne der Senat des BAG die Wirksamkeit der Kündigung nicht abschließend beurteilen. Das LAG werde aufzuklären haben, ob die Massenentlassungsanzeige inhaltlich den Vorgaben des § 17 Abs. 3 KSchG genüge und ob das Anhörungsverfahren gemäß § 102 Abs. 1 Satz 1 BetrVG ordnungsgemäß eingeleitet worden sei.


Pressemitteilung des BAG:

Das sagen wir dazu:

Verfassungsbeschwerde denkbar

Binnen eines Monats nach Zustellung des Urteils besteht für den Kläger die Möglichkeit Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG) einzulegen. Denkbare Begründung: Da das BAG von einem Vorabentscheidungsersuchen beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) abgesehen habe, sei der Kläger dem gesetzlichen Richter entzogen worden. Denn wenn es um die Auslegung von Unionsrecht gehe, sei der EuGH nach der Rechtsprechung des BVerfG gesetzlicher Richter.

Ob der Kläger das BVerfG anrufen wird bleibt abzuwarten.

Rechtliche Grundlagen

§ 17 Kündigungsschutzgesetz (KSchG)

§ 17 Anzeigepflicht

(1) Der Arbeitgeber ist verpflichtet, der Agentur für Arbeit Anzeige zu erstatten, bevor er
1.
in Betrieben mit in der Regel mehr als 20 und weniger als 60 Arbeitnehmern mehr als 5 Arbeitnehmer,
2.
in Betrieben mit in der Regel mindestens 60 und weniger als 500 Arbeitnehmern 10 vom Hundert der im Betrieb regelmäßig beschäftigten Arbeitnehmer oder aber mehr als 25 Arbeitnehmer,
3.
in Betrieben mit in der Regel mindestens 500 Arbeitnehmern mindestens 30 Arbeitnehmer
innerhalb von 30 Kalendertagen entläßt. Den Entlassungen stehen andere Beendigungen des Arbeitsverhältnisses gleich, die vom Arbeitgeber veranlaßt werden.

(2) Beabsichtigt der Arbeitgeber, nach Absatz 1 anzeigepflichtige Entlassungen vorzunehmen, hat er dem Betriebsrat rechtzeitig die zweckdienlichen Auskünfte zu erteilen und ihn schriftlich insbesondere zu unterrichten über
1.
die Gründe für die geplanten Entlassungen,
2.
die Zahl und die Berufsgruppen der zu entlassenden Arbeitnehmer,
3.
die Zahl und die Berufsgruppen der in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer,
4.
den Zeitraum, in dem die Entlassungen vorgenommen werden sollen,
5.
die vorgesehenen Kriterien für die Auswahl der zu entlassenden Arbeitnehmer,
6.
die für die Berechnung etwaiger Abfindungen vorgesehenen Kriterien.
Arbeitgeber und Betriebsrat haben insbesondere die Möglichkeiten zu beraten, Entlassungen zu vermeiden oder einzuschränken und ihre Folgen zu mildern.

(3) Der Arbeitgeber hat gleichzeitig der Agentur für Arbeit eine Abschrift der Mitteilung an den Betriebsrat zuzuleiten; sie muß zumindest die in Absatz 2 Satz 1 Nr. 1 bis 5 vorgeschriebenen Angaben enthalten. Die Anzeige nach Absatz 1 ist schriftlich unter Beifügung der Stellungnahme des Betriebsrats zu den Entlassungen zu erstatten. Liegt eine Stellungnahme des Betriebsrats nicht vor, so ist die Anzeige wirksam, wenn der Arbeitgeber glaubhaft macht, daß er den Betriebsrat mindestens zwei Wochen vor Erstattung der Anzeige nach Absatz 2 Satz 1 unterrichtet hat, und er den Stand der Beratungen darlegt. Die Anzeige muß Angaben über den Namen des Arbeitgebers, den Sitz und die Art des Betriebes enthalten, ferner die Gründe für die geplanten Entlassungen, die Zahl und die Berufsgruppen der zu entlassenden und der in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer, den Zeitraum, in dem die Entlassungen vorgenommen werden sollen und die vorgesehenen Kriteren für die Auswahl der zu entlassenden Arbeitnehmer. In der Anzeige sollen ferner im Einvernehmen mit dem Betriebsrat für die Arbeitsvermittlung Angaben über Geschlecht, Alter, Beruf und Staatsangehörigkeit der zu entlassenden Arbeitnehmer gemacht werden. Der Arbeitgeber hat dem Betriebsrat eine Abschrift der Anzeige zuzuleiten. Der Betriebsrat kann gegenüber der Agentur für Arbeit weitere Stellungnahmen abgeben. Er hat dem Arbeitgeber eine Abschrift der Stellungnahme zuzuleiten.


(3a) Die Auskunfts-, Beratungs- und Anzeigepflichten nach den Absätzen 1 bis 3 gelten auch dann, wenn die Entscheidung über die Entlassungen von einem den Arbeitgeber beherrschenden Unternehmen getroffen wurde. Der Arbeitgeber kann sich nicht darauf berufen, daß das für die Entlassungen verantwortliche Unternehmen die notwendigen Auskünfte nicht übermittelt hat.

(4) Das Recht zur fristlosen Entlassung bleibt unberührt. Fristlose Entlassungen werden bei Berechnung der Mindestzahl der Entlassungen nach Absatz 1 nicht mitgerechnet.

(5) Als Arbeitnehmer im Sinne dieser Vorschrift gelten nicht
1.
in Betrieben einer juristischen Person die Mitglieder des Organs, das zur gesetzlichen Vertretung der juristischen Person berufen ist,
2.
in Betrieben einer Personengesamtheit die durch Gesetz, Satzung oder Gesellschaftsvertrag zur Vertretung der Personengesamtheit berufenen Personen,
3.
Geschäftsführer, Betriebsleiter und ähnliche leitende Personen, soweit diese zur selbständigen Einstellung oder Entlassung von Arbeitnehmern berechtigt sind.