1. Freizügigkeit und soziale Sicherheit in Europa
Ein gemeinsamer europäischer Arbeitsmarkt verlangt soziale Sicherheit. Art: 45 AEUV gewährt die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union. Sie umfasst die Abschaffung jeder auf Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlung der Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten in Bezug auf Beschäftigung, Entlohnung und sonstige Arbeitsbedingungen. Dazu hat der Ministerrat die VO (EWG) Nr. 1408/71 v. 14.6.1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, erlassen. Sie wurde mehrfach geändert und schließlich ersetzt durch die VO (EG) 883/2004 vom 29. April 2004, bleibt für Altfälle aber noch anzuwenden. Um einen solchen Altfall ging es vor dem Bundessozialgericht (BSG) und nun auch vor dem EuGH.
2. Vorzeitige Altersrente nach Altersteilzeit für Wanderarbeitnehmer
Der 1946 geborene, gewerkschaftlich organisierte Kläger (W.L.) ist österreichischer Staatsangehöriger mit Wohnsitz in Österreich. Er beanspruchte vorzeitige Altersrente nach Altersteilzeit, nachdem er zuvor abwechselnd über 40 Jahre in Deutschland und Österreich gearbeitet hatte. Das österreichische wie das deutsche Recht kennen Altersteilzeitregelungen. Sie sind ähnlich, aber nicht identisch. In beiden Ländern geht es um Arbeitszeitverringerung (im Blockmodell; Deutschland auf 50%, Österreich auf 40%) mit teilweisem Lohnausgleich, kombiniert mit der Möglichkeit des anschließenden, vorzeitigen Rentenbezugs.
2004 schloss der Kläger mit seinem damaligen österreichischen Arbeitgeber eine Altersteilzeitvereinbarung nach österreichischem Recht. Danach wurde die Arbeitszeit von 38,5 auf 15,4 Wochenstunden, also 40 % der bisherigen wöchentlichen Arbeitszeit, verringert. Das Arbeitsverhältnis endete mit Ablauf der Altersteilzeit. Seit 2006 bezieht er vorzeitige Alterspension bei langer Versicherungsdauer vom österreichischen Versicherungsträger. Diese betrug jedoch nur 370,25 €. Ein existenzsicherndes Einkommen konnte er über vorgezogene Altersrente nach Altersteilzeit also nur erreichen, wenn ihm diese in beiden Ländern gewährt würde. Die gleiche Problematik könnte sich stellen, hätte er Altersteilzeit nicht in Österreich, sondern in Deutschland vereinbart und würde wiederum in beiden Ländern vorzeitige Rente beanspruchen. Sein Antrag bei der Deutschen Rentenversicherung Bayern Süd auf Altersrente nach Altersteilzeitarbeit. wurde aber mit der Begründung abgelehnt, dass die Altersteilzeitarbeit nicht nach deutschen Rechtsvorschriften durchgeführt worden sei. Widerspruch, Klage und Berufung vor dem bayerischen Landessozialgericht (BayLSG) blieben erfolglos. Das LSG stellte insbesondere darauf ab, dass der Kläger seine Arbeitszeit im Rahmen der österreichischen Altersteilzeitregelung nicht wie nach dem ATZG auf 50 %, sondern auf 40 % der bisherigen Arbeitszeit vermindert habe.
3. Dimensionen des Europäischen Sozialrechts
Vor dem BSG und sodann auch vor dem EuGH wurde der Kläger durch das Gewerkschaftliche Centrum für Revision und Europäisches Recht der DGB Rechtsschutz GmbH in Kassel vertreten. Der Schwerpunkt der Argumentation lag hier im europäischen Recht. Das LSG habe mit seiner Auslegung des § 237 Abs. 1 Nr. 3 Buchst. b SGB VI gegen das Diskriminierungsverbot wegen der Staatsangehörigkeit und gegen den Freizügigkeitsgrundsatz verstoßen. Deshalb sei Altersteilzeitarbeit nach österreichischem Recht derjenigen nach deutschem Recht gleichzustellen. Dies führte zum Vorlagebeschluss des BSG v. 13.6.2013 – B 13 R 110/11 R an den EuGH mit den wesentlichen Fragen, ob der europäische Gleichheitssatz einer nationalen Bestimmung entgegensteht, nach der Altersrente nach Altersteilzeit voraussetzt, dass diese nach nationalen (deutschen) Rechtsvorschriften ausgeübt wurde; weiter gefragt wurde nach den Anforderungen des Gleichbehandlungsgrundsatzes an die Gleichstellung der nach ausländischen Rechtsvorschriften absolvierten Altersteilzeit als Voraussetzung der nationalen (vorzeitigen) Altersrente.
4. Vorlageverfahren nach Art. 267 AEUV
Vor dem EuGH ging es nur noch um die Auslegung der angeführten Vorschriften des primären (Art. 45 AEUV) und sekundären (VO 1408/71) Unionsrechts. Dagegen legt der Gerichtshof nationales Recht nicht aus. Er legt es vielmehr so zu Grunde, wie vom vorlegenden Gericht bzw. den weiteren Beteiligten vorgetragen. Der EuGH ist keine Superrevisionsinstanz für nationales Recht. Dies verkennen gelegentlich ungeübte Prozessbevollmächtigte, wenn sie versuchen, ihren nationalen Rechtsstreit mit den bisher schon vorgebrachten Argumenten zur Auslegung nationaler Vorschriften in Luxemburg zu gewinnen. Dies geht regelmäßig daneben. Allenfalls kann der EuGH feststellen, dass europäisches Unionsrecht so auszulegen ist, dass es nationalen Bestimmungen oder einer bestimmten Auslegung entgegensteht, wenn diese zu einem bestimmten Ergebnis führen.
In diesem Verfahren konnte sich der Kläger auf eine fortgeschrittene Rechtsprechung des Gerichtshofs stützen. Danach ergibt sich aus Art 45 AEUV ein allgemeines Diskriminierungsverbot. Dieses Diskriminierungsverbot wird durch Art 3 der VO 1408/71 bzw. Art 4 der VO 883/2004 für den Bereich der sozialen Sicherheit konkretisiert. Der Gleichbehandlungsgrundsatz im Bereich der Sozialleistungen verbietet sowohl unmittelbare als auch mittelbare Diskriminierungen. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs liegt eine versteckte Diskriminierung dann vor, wenn mitgliedstaatliche Regelungen die Leistungsgewährung ohne rechtfertigenden Grund von Bedingungen oder Kriterien abhängig machen, die es zuwandernden Arbeitnehmern im Gegensatz zu eigenen Staatsangehörigen praktisch unmöglich machen oder erschweren, in den Genuss der Leistungen zu kommen. Eine solche versteckte Diskriminierung liegt vor, wenn die Deutsche Rentenversicherung für den Beginn des Bezugs einer Altersrente, die nach deutschem Recht im Anschluss an Altersteilzeit bezogen werden kann, eine nach österreichischem Recht durchgeführte Altersteilzeit nicht anerkennen würde oder wenn sie diese nur anerkennen würde, wenn sie den Vorschriften des Altersteilzeitgesetzes in der Form entspricht, dass der AN während der Altersteilzeit seine Arbeitszeit um exakt 50 % reduziert hat.
In Gleichbehandlungsfragen ist regelmäßig eine Vergleichsrechnung angezeigt. Hätte der Kl. nur in Österreich gearbeitet und am Ende Altersteilzeit nach österreichischem Recht vereinbart, hätte er vorgezogene Rente in voller Höhe in Österreich bezogen. Hätte er nur in Deutschland gearbeitet und am Ende Altersteilzeit nach deutschem Recht vereinbart, hätte er vorgezogene Rente in voller Höhe in Deutschland bezogen. Die Tatsache, dass er sein Grundrecht auf Freizügigkeit verwirklicht hat, darf nicht dazu führen, dass er seine deutsche Rente erst Jahre später beziehen dürfe, so die Argumentation vor dem EuGH. Schließlich seien die deutschen und österreichischen Bestimmungen zwar nicht identisch, aber doch recht ähnlich. Altersteilzeitregelungen werden in allen eur. Mitgliedstaaten maßgeblich von der Arbeitgeberseite bestimmt. Sie richten sich in erster Linie nach nationalem Recht. Es könne nicht verlangt werden, dass Altersteilzeitregelungen in eur. Mitgliedstaaten gleichzeitig unter solchen Bedingungen abgeschlossen werden, dass sie sowohl die Bestimmungen des nationalen Gesetzes als auch die Bestimmungen eines anderen Landes erfüllen, in dem der AN zuvor einen Teil seiner Erwerbsbiografie verbracht hat.
Diesen Argumenten hat sich der
weitgehend angeschlossen. Danach soll Art. 3 Abs. 1 der VO Nr. 1408/71 gem. Art. 45 AEUV die Gleichbehandlung im Bereich der sozialen Sicherheit ohne Unterscheidung nach der Staatsangehörigkeit dadurch sicherstellen, dass er alle Diskriminierungen beseitigt, die sich aus den nationalen Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten ergeben. Der Gleichbehandlungsgrundsatz verbietet nicht nur offenkundige Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit, sondern auch alle versteckten Formen der Diskriminierung, die durch Anwendung anderer Unterscheidungskriterien tatsächlich zum gleichen Ergebnis führen. Danach ist eine nationale Vorschrift, sofern sie nicht objektiv gerechtfertigt ist und in einem angemessenen Verhältnis zum verfolgten Zweck steht, als mittelbar diskriminierend anzusehen, wenn sie sich ihrem Wesen nach eher auf Wanderarbeitnehmer als auf inländische Arbeitnehmer auswirken kann und folglich die Gefahr besteht, dass sie Wanderarbeitnehmer besonders benachteiligt. Das gilt auch für Bestimmungen, die Altersrente nach Altersteilzeit ausschließlich nach Maßgabe des deutschen Rechts vorsehen.
Allerdings haben die nationalen Behörden die beiden Vorruhestandsregelungen einer vergleichenden Prüfung zu unterziehen. Identität ist nicht zu verlangen. Geringfügige Unterschiede, die keinen erheblichen Einfluss auf die Erreichung der verfolgten Ziele haben, dürfen nicht berücksichtigt werden, um einer Altersteilzeit, die nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats durchgeführt worden ist, die Anerkennung als der Altersteilzeitnach innerstaatlichem Recht gleichwertig zu versagen. Eine Differenz von 10 % beim Arbeitszeitumfang ist nicht bedeutend genug, um die Erreichung der mit dem ATZG verfolgten Ziele der Sozialpolitik in Frage zu stellen.
Danach hat der EuGH die Vorlagefragen wie folgt beantwortet:
- Der Grundsatz der Gleichbehandlung, der in Art. 3 Abs. 1 der VO (EWG) Nr. 1408/71 v. 14.6.1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in ihrer durch die VO (EG) Nr. 118/97 v. 2.12.1996 geänderten und aktualisierten Fassung, geändert durch die VO (EG) Nr. 1992/2006 v. 18.12.2006, verankert ist, steht einer Bestimmung eines Mitgliedstaats entgegen, nach der die Gewährung einer Altersrente nach Altersteilzeitarbeit voraussetzt, dass die Altersteilzeitarbeit ausschließlich nach den nationalen Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats ausgeübt wurde.
- Der in Art. 3 Abs. 1 der VO Nr. 1408/71 … verankerte Grundsatz der Gleichbehandlung ist dahin auszulegen, dass in einem Mitgliedstaat für die Anerkennung einer nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats absolvierten Altersteilzeitarbeit eine vergleichende Prüfung der Voraussetzungen für die Anwendung der in den beiden Mitgliedstaaten vorgesehenen Maßnahmen zur Altersteilzeitarbeit vorzunehmen ist, um in jedem Einzelfall zu ermitteln, ob die festgestellten Unterschiede geeignet sind, die Erreichung der mit den betreffenden Rechtsvorschriften des erstgenannten Mitgliedstaats verfolgten legitimen Ziele in Frage zu stellen.
Das Urteil des EuGH ist unter „curia.europa.eu/“ sowie unter „arbeitundrecht.eu“ nachzulesen. Der Ausgangsrechtsstreit wird jetzt vor dem BSG fortgeführt, wobei das BSG die authentische Auslegung der europäischen Vorschriften durch den EuGH seiner Entscheidung zu Grunde legen wird.