Anwesenheitsprämien sollen Krankheitstage reduzieren. Sie sind rechtlich unter bestimmten Voraussetzungen möglich, im Ergebnis aber kontraproduktiv.
Anwesenheitsprämien sollen Krankheitstage reduzieren. Sie sind rechtlich unter bestimmten Voraussetzungen möglich, im Ergebnis aber kontraproduktiv.

 

Das Bundesarbeitsgericht hat vor einiger Zeit über einen Fall zu entscheiden, in dem der Arbeitsvertrag eine Anwesenheitsprämie vorsah. Danach standen der Arbeitnehmerin folgende Ansprüche zu:

 

  • 50 Euro im Monat ohne Krankheitstage
  • 12,50 Euro bei 1 - 3 Krankheitstagen
  • 0 Euro bei mehr als drei Krankheitstagen

Weitere 50 Euro Quartalsprämie sollte es geben für drei Monate ohne Krankheitstag. Diese Regelungen übernahm später eine Betriebsvereinbarung. Das Bundesarbeitsgericht hatte zu entscheiden, ob diese Prämie auf den Mindestlohn anzurechnen ist.

Die Prämie für Anwesenheit ist eine Strafe für Krankheit

Mit Anwesenheitsprämien versuchen Arbeitgeber, Krankheitstage und damit Entgeltfortzahlungskosten zu reduzieren. Dabei geht es nicht nur darum, ein „Blaumachen“, besonders an Brückentagen und in Wochenendnähe unlukrativ zu machen.

 

Bei Erkrankungen, die nicht so gravierend sind, dass das Arbeiten vollkommen ausgeschlossen ist, sollen Arbeitnehmer dazu animiert werden, sich lieber zur Arbeit zu quälen, als daheim zu bleiben, bis sie wieder vollkommen arbeitsfähig sind.

 

Der Arbeitgeber erspart sich so die Kosten für die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, die besonders bei häufigen Kurzerkrankungen erheblich zu Buche schlägt. Außerdem muss er sich nicht um eine Vertretung für erkrankte Mitarbeiter*innen oder sich eine Umorganisation der anfallenden Arbeit bemühen.

Kürzung von Sondervergütungen ist möglich

Rechtlich ist eine solche Konstruktion in bestimmten Grenzen möglich. Es handelt es sich um eine Sondervergütung, weil sie zusätzlich zum laufenden Arbeitsentgelt gezahlt wird.

 

Eine Sondervergütung bei Ausfallzeiten wegen Krankheit darf der Arbeitgeber kürzen, aber nur um ein Viertel eines durchschnittlichen Tageslohns pro Krankheitstag.

 

Beispiel: Ein Beschäftigter, der 40 Stunden in der Woche zum Mindestlohn von 9,60 € arbeitet, erhält ein vertraglich vereinbartes Weihnachtsgeld von 500 €. Im zurückliegenden Jahr war er 20 Tage arbeitsunfähig krank.

 

  • Tageslohn 76,80 € (8 x 9,60) ·
  • Kürzung also um 19,20 pro Krankheitstag möglich (76,80/4) ·
  • Bei 20 Tagen also insgesamt 384 € (19,20 x 20) ·
  • Damit muss das Weihnachtsgeld noch mindestens 116 € betragen (500 - 384)

 

Auch eine Anwesenheitsprämie kann nach diesem Prinzip anteilig gekürzt werden. Jede Vereinbarung, die für die Beschäftigten ungünstiger ist, ist unwirksam.

Wie werde ich nicht krank?

 

Überzeugend ist eine Anwesenheitsprämie dennoch nicht: Denn Prämien belohnen normalerweise ein Verhalten, also etwas, worauf einzelne Arbeitnehmer*innen einen Einfluss haben. Dies ist bei der Gesundheit aber nur mittelbar möglich.

 

Beispiel: Ein Altenpfleger verhebt sich bei der Lagerung eines bettlägerigen Menschen, weil der Arbeitgeber die vorgeschriebenen höhenverstellbaren Betten eingespart hat. Durch die Rückenschmerzen fällt er mehrere Wochen aus. In diesem Fall verliert der Arbeitnehmer seine Prämie und wird quasi doppelt bestraft, obwohl der Arbeitgeber die Arbeitsunfähigkeit verschuldet hat.

Das Problem heißt Präsentismus

Die Anwesenheitsprämie letztlich eine finanziell unterfütterte Durchhalteparole. Arbeitnehmer*innen sollen sich „nicht so anstellen“, ihre Quälerei soll belohnt werden. Doch dieser Anreiz ist fatal.

 

Denn wer zur Arbeit geht, obwohl er eigentlich krank ist, riskiert, dass sich der Gesundheitszustand verschlechtert und die Krankheit sich verlängert - mit entsprechenden Kosten. Bei der Arbeit steigt das Risiko, Fehler zu machen, die den Arbeitgeber teuer zu stehen kommen können.

 

Arbeitnehmer*innen mit ansteckenden Krankheiten - das sollte spätestens seit der Pandemie jeder wissen - können ihre Kolleg*innen anstecken und die Krankheitstage in erst recht explodieren lassen.

 

Wenn Beschäftigte zur Arbeit erscheinen, obwohl sie dazu objektiv nicht fähig sind, nennt man dies Präsentismus. Nach einer repräsentativen Befragung zum DGB-Index Gute Arbeit 2015 sind knapp die Hälfte aller abhängig Beschäftigten in jenem Jahr eine Woche und länger zur Arbeit gegangen, obwohl die Betroffenen sich „richtig krank gefühlt haben“.

Kosten doppelt so hoch wie bei Entgeltfortzahlung

Insgesamt sind seinerzeit zwei Drittel aller Beschäftigten mindestens einmal krank zur Arbeit gegangen. Knapp die Hälfte der Beschäftigten hat eine Woche und mehr trotz Krankheit gearbeitet, bei jedem Siebten waren es drei Wochen und mehr.

 

Die Studie führt dies auf Arbeitsverdichtung und eine hohe psychische Arbeitsbelastung sowie die Angst vor einem Verlust des Arbeitsplatzes zurück. Sei das Betriebsklima dagegen gut, blieben kranke Beschäftigte eher zu Hause.

 

Durch Präsentismus schaden Beschäftigte aber nicht nur sich selbst, sondern auch ihren Arbeitgebern: Nach einer Untersuchung der Unternehmensberatung Booz & Company belaufen sich die durchschnittlichen Kosten, die deutschen Unternehmen durch krankheitsbedingte Fehlzeiten entstehen, auf 1.199 € pro Jahr und Mitarbeiter*in. Dagegen seien die „Präsentismuskosten“ mit 2.399 € doppelt so hoch.

Betriebsklima statt Prämie

Arbeitnehmer*innen leiden also, entgegen der Einschätzung mancher Arbeitgeber, nicht an zu wenig, sondern an zu viel Strebsamkeit bei der Arbeit. Und das kann mehr Schaden anrichten, als das „Krankfeiern“.

 

Umso unverständlicher ist es, wenn Arbeitgeber dem schädlichen Präsentismus durch Anwesenheitsprämien auch noch Vorschub leisten. Wollten sie wirklich etwas für die Gesundheit ihrer Beschäftigten tun, so müssten sie dies mit entsprechenden Angeboten wie gesundes Kantinenessen und Sportangebote tun.

 

Auch ein gutes Betriebsklima zu schaffen, kann Präsentismus vorbeugen. Denn dann bleiben die Kranken eher daheim. Solange ein solches Klima jedoch (noch) nicht besteht, sollten Arbeitgeber Beschäftigte, die erkennbar krank sind, umgehend nach Hause schicken, statt sie auch noch mit Prämien für ihren fragwürdigen Einsatz zu belohnen.

Zum DGB Index „Gute Arbeit“

Rechtliche Grundlagen

§ 4a Entgeltfortzahlungsgesetz

Eine Vereinbarung über die Kürzung von Leistungen, die der Arbeitgeber zusätzlich zum laufenden Arbeitsentgelt erbringt (Sondervergütungen), ist auch für Zeiten der Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit zulässig. Die Kürzung darf für jeden Tag der Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit ein Viertel des Arbeitsentgelts, das im Jahresdurchschnitt auf einen Arbeitstag entfällt, nicht überschreiten.