Das Arbeitsgericht Gelsenkirchen und das Landesarbeitsgericht (LAG) Hamm gaben den Klägern Recht und verurteilten die Arbeitgeberin zu weiteren Abfindungszahlungen von 11.656,44 € und 36.058,38 €.
Die Arbeitgeberin betreibt ein Unternehmen mit der Herstellung und dem Vertrieb von Wasser- und Heizungsanlagen. Sie beschloss, den Betrieb in Gelsenkirchen schrittweise zum 31.03.2018 stillzulegen. Am 09.06.2016 vereinbarten der Betriebsrat und die Arbeitgeberin einen Sozialplan.
Danach „erklärte sich die Arbeitgeberin bereit, einer Verkürzung der Kündigungsfrist nach Ausspruch der (…) betriebsbedingten Arbeitgeberkündigung (…) zuzustimmen. Eine Verkürzung (vorzeitiges Ausscheiden) gilt längstens für die Dauer der individuellen Kündigungsfrist. Hierzu bedarf es einer schriftlichen Erklärung des Arbeitnehmers, welche dem Arbeitgeber eine Woche vor dem geplanten Austritt zugegangen sein muss. Arbeitnehmer, die gemäß vorstehendem Absatz vorzeitig ausscheiden, erhalten zusätzlich zur Abfindung nach diesem Sozialplan 80% der bis zum hypothetischen Ende des Arbeitsverhältnisses zu zahlenden Bruttomonatsgehälter als Abfindung.“
Einheitliche arbeitgeberseitige betriebsbedingte Kündigungen
Die Arbeitgeberin kündigte die Arbeitsverhältnisse der Mitarbeiter einheitlich zu den Stilllegungszeitpunkten der jeweiligen Produktionsbereiche ungeachtet der Kündigungsfristen der betroffenen Mitarbeiter.
Sozialplanabfindungen in Höhe von 89.911,82 € und 58.749,70 €
Die Kläger verkürzten die von der Arbeitgeberin bestimmten Kündigungsfristen um 4 bzw. 10 Monate durch die Erklärungen, vorzeitig aus dem gekündigten Arbeitsverhältnis auszuscheiden. Die Arbeitgeberin zahlte Abfindungen in Höhe von 89.911,82 € brutto und 58.749,70 € brutto.
Die Kläger verlangten zusätzlich eine Abfindung in Höhe von 80% der bis zum Ablauf der arbeitgeberseitigen Kündigungsfrist ersparten Bruttomonatsgehälter.
Argumente der Arbeitgeberin überzeugen nicht
Die Arbeitgeberin wollte mit der Regelung im Sozialplan einen finanziellen Anreiz für den gekündigten Arbeitnehmer schaffen, aber genügend Produktionsmitarbeiter bis zum Stilllegungszeitpunkt sicherstellen. Die zusätzliche Abfindung sollte aus Sicht der Arbeitgeberin nur begrenzt für die Dauer der individuellen Kündigungsfrist des vorzeitig ausscheidenden Mitarbeiters beansprucht werden können. Damit sollte vermieden werden, dass durch ein verfrühtes Ausscheiden der Mitarbeiter die Produktion vor der geplanten Stilllegung zum Stillstand kommt.
Sozialpläne sind Betriebsvereinbarungen eigener Art
Das Arbeitsgericht Gelsenkirchen und das LAG Hamm haben den Sozialplan wie einen Tarifvertrag ausgelegt. Es komme auf den Wortlaut, den Gesamtzusammenhang der Regelung und den sich daraus ergebenden Sozialplanzweck an. Der tatsächliche Wille der Betriebsparteien sei nur dann zu berücksichtigen, wenn er auch im Sozialplan seinen Niederschlag gefunden habe. Bei bestehenden Zweifeln müsse die Auslegung zu einem sachgerechten, zweckorientierten, praktisch brauchbaren und gesetzkonformen Verständnis der Regelung führen.
Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz
Das LAG Hamm stellt eine Teilunwirksamkeit der Sozialplanregelung fest. Die Auslegung ergab, dass die Mitarbeiter die Möglichkeit hatten, unbefristet vorzeitig aus dem bereits gekündigten Arbeitsverhältnis auszuscheiden. Denn die Möglichkeit des vorzeitigen Ausscheidens orientierte sich nicht an Arbeitsabläufen in den jeweiligen Produktionsbereichen, sondern an der jeweils individuellen Kündigungsfrist der Mitarbeiter.
Dagegen verstößt die (Teil-)Regelung, die zusätzliche Abfindung auf die individuelle Kündigungsfrist zu begrenzen, gegen den betriebsverfassungsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz des § 75 Abs. 1 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG).
Bevorzugung älterer Mitarbeiter ohne sachlich Rechtfertigung
Die Regelung im Sozialplan bevorteilt ältere Mitarbeiter mit langer Betriebszugehörigkeit. Diese haben im Vergleich zu jüngeren Mitarbeitern durch die längeren individuellen Kündigungsfristen einen weiteren Gestaltungsspielraum, die von der Arbeitgeberin bestimmte Kündigungsfrist zu verkürzen und eine weitere Abfindung zu erlangen.
Der von der Arbeitgeberin vorgetragene Wille, den Produktionsablauf bis zur geplanten Stilllegung sicherzustellen, ist kein legitimer Zweck um die Ungleichbehandlung der jüngeren Mitarbeiter zu rechtfertigen.
Individuelle Kündigungsfrist ungeeignet um Betriebsablauf zu sichern
Die Arbeitgeberin hat weder die von ihr bestimmten Kündigungsfristen von bis zu 18 Monaten, noch die Möglichkeit vorzeitig unter Beachtung der individuellen Kündigungsfrist auszuscheiden, von Produktionsabläufen oder Zeitpunkten abhängig gemacht. Sofern die Arbeitgeberin die Produktion durch die zeitliche Begrenzung des vorzeitigen Ausscheidens auf die individuelle Kündigungsfrist sicherstellen wollte, war das gewählte Mittel ungeeignet.
Verstoß gegen § 75 BetrVG führt zur Teilunwirksamkeit
Bei Sozialplänen geht es um den Ausgleich oder die Milderung von sozialen Nachteilen, die durch den Arbeitsplatzverlust erlitten werden, und nicht darum, die Risiken der Arbeitgeber bei der Durchführung von Betriebsänderungen zu beseitigen oder zu reduzieren.
Der verbleibende wirksame Teil der Sozialplanregelung stellt eine sinnvolle und geschlossene Regelung auf Zahlung einer zusätzlichen Abfindung dar, wenn der Mitarbeiter vorzeitig ausscheidet.
Arbeitgeberin nicht über Gebühr belastet
Das Landesarbeitsgericht Hamm sieht keine Mehrbelastung der Arbeitgeberin in dem Umstand, dass Mitarbeiter ohne zeitliche Begrenzung vorzeitig ausscheiden, da zum einen 20% der Bruttomonatsvergütung erspart werden und ohnehin zusätzliche Abfindungszahlungen für die Dauer der individuellen Kündigungsfristen eingeplant waren.
Rechtliche Grundlagen
§ 75 BetrVG
Grundsätze für die Behandlung der Betriebsangehörigen
(1) Arbeitgeber und Betriebsrat haben darüber zu wachen, dass alle im Betrieb tätigen Personen nach den Grundsätzen von Recht und Billigkeit behandelt werden, insbesondere, dass jede Benachteiligung von Personen aus Gründen ihrer Rasse oder wegen ihrer ethnischen Herkunft, ihrer Abstammung oder sonstigen Herkunft, ihrer Nationalität, ihrer Religion oder Weltanschauung, ihrer Behinderung, ihres Alters, ihrer politischen oder gewerkschaftlichen Betätigung oder Einstellung oder wegen ihres Geschlechts oder ihrer sexuellen Identität unterbleibt.
(2) Arbeitgeber und Betriebsrat haben die freie Entfaltung der Persönlichkeit der im Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer zu schützen und zu fördern. Sie haben die Selbständigkeit und Eigeninitiative der Arbeitnehmer und Arbeitsgruppen zu fördern.