Mit 66 Jahren, ist noch lang noch nicht Schluss!
Das Erreichen der Regelaltersgrenze ändert nichts daran, dass das hohe Lebensalter bei einer Sozialauswahl für die Schutzwürdigkeit von Arbeitnehmer*innen heranzuziehen ist. Das ist das Fazit aus dem Urteil des Landesarbeitsgerichts (LAG) Hamm.
Geklagt hatte ein 1947 geborener Jurist, der von seinem Arbeitgeber eine betriebsbedingte Kündigung erhalten hatte. Bei dem Arbeitgeber, ein Arbeitgeberverband, war der Mann seit mehr als 30 Jahren als juristischer Mitarbeiter angestellt. Als die Verfahren, die der Verband für seine Mitgliedsunternehmen führt, rückläufig sind, soll einer der sechs angestellten Rechtsanwälte gehen. Der Verband guckt sich dafür den Angestellten raus, der seiner Meinung nach am wenigstens schutzwürdig ist, da er bereits rentenberechtigt ist: den Kläger.
Zu Unrecht, so das klare Votum des Arbeitsgerichts Hagen in erster Instanz. Dies bestätigte auch das LAG Hamm in zweiter Instanz. Die Berufung der Arbeitgeberseite wurde zurückgewiesen.
Ausreichende Versorgung wegen Rente ist für Sozialauswahl ohne Belang
Auch beim LAG drang der Verband nicht mit dem Argument durch, der Kläger beziehe seine Regelaltersrente und sei insgesamt ausreichend versorgt. Dies könne nach gegebener Gesetzeslage keine Berücksichtigung finden. Denn bei der Sozialauswahl hätten allgemeine sozialpolitische Wertungen außer Betracht zu bleiben.
Das LAG wies dabei auch darauf hin, dass der Gesetzgeber dem Erreichen des Lebensalters für eine Regelaltersrente im Rahmen des Kündigungsschutzgesetzes überhaupt nur an einer Stelle Bedeutung beigemessen hat. Allein bei der Bemessung der Abfindung bei gerichtlicher Auflösung des Arbeitsverhältnisses wegen Unzumutbarkeit (§§ 9, 10 KSchG) wird darauf abgestellt, ob der Arbeitnehmer im Zeitpunkt der Auflösung das für die Regelaltersrente bezeichnete Lebensalter erreicht hat.
An der entscheidenden Stelle, nämlich dort wo die Sozialauswahl geregelt ist, findet sich kein Hinweis auf einen Altersrentenbezug oder das Erreichen der Regelaltersgrenze. § 1 Absatz 3 des Kündigungsschutzgesetztes lautet: Ist einem Arbeitnehmer aus dringenden betrieblichen Erfordernissen im Sinne des Absatzes 2 gekündigt worden, so ist die Kündigung trotzdem sozial ungerechtfertigt, wenn der Arbeitgeber bei der Auswahl des Arbeitnehmers die Dauer der Betriebszugehörigkeit, das Lebensalter, die Unterhaltspflichten und die Schwerbehinderung des Arbeitnehmers nicht oder nicht ausreichend berücksichtigt hat. Danach kommt es für die soziale Schutzwürdigkeit allein auf Dauer der Betriebszugehörigkeit, Alter, Unterhaltspflichten und Schwerbehinderung an.
Danach weist der Kläger von den beim Verband angestellten Juristen klar die meisten Sozialpunkte auf, da er sehr lange beschäftigt und am ältesten ist.
Zudem gibt es § 41 des sechsten Sozialgesetzbuches (SGB VI) eine Regelung zum Zusammenspiel von Altersrente und Kündigungsschutz. Diese lautet: Der Anspruch des Versicherten auf eine Rente wegen Alters ist nicht als ein Grund anzusehen, der die Kündigung eines Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitgeber nach dem Kündigungsschutzgesetz bedingen kann.
Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses über die gesetzliche Regelaltersgrenze hinaus als legitimes wirtschaftliches und ideelles Anliegen
Die Richter beriefen sich weiter auf ein Urteil des Bundesarbeitsgerichts (BAG) aus diesem Jahr. Das BAG hat im Zusammenhang mit einer Befristung auf folgendes hingewiesen: Arbeitnehmer*innen verfolgten mit dem Wunsch auf dauerhafte Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses über die gesetzliche Regelaltersgrenze hinaus legitime wirtschaftliche und ideelle Anliegen und machten auf diesem Wege von der Möglichkeit beruflicher Selbstverwirklichung Gebrauch.
Untermauert wurde dies mit einem Blick auf eine aktuelle Studie des Statistischen Bundesamtes (Die Generation 65+ in Deutschland, 2015). Danach gehen mittlerweile 14 % der 65- bis 69-jährigen Arbeitnehmer*innen einer Arbeit nach.
Kündigung wegen fehlerhafter Sozialauswahl unwirksam
Ergebnis der Hammer Richter: Die vorgenommene Sozialauswahl sei wegen des bei der Betriebszugehörigkeitsdauer deutlich schutzwürdigeren Klägers fehlerhaft und damit die Kündigung rechtsunwirksam. Auf die betrieblichen Gründe, die zur Kündigung führten, kam es nicht an.
Die Revision zum BAG wurde nicht zugelassen. Der Arbeitgeber hat Nichtzulassungsbeschwerde eingelegt. Dieser wurde stattgegeben. Die Sache ist beim BAG anhängig unter dem Az. 2 AZR 67/16.
Anmerkung der Redaktion
„Ihr werdet Euch noch wundern, wenn ich erst Rentner bin…“. So beginnt der Song „mit 66 Jahren“ von Udo Jürgens. Wundern sollte sich der Arbeitgeber in diesem Falle indes eigentlich nicht, da es sich um einen Arbeitgeberverband handelt. Sämtliche dort angestellte Juristen verdienen Ihr Geld mit der arbeitsrechtlichen Beratung von Unternehmen. Und die Rechtslage ist doch recht eindeutig. So lange der Gesetzgeber keine Gesetzesänderung vornimmt, kommt es für die Frage der Sozialauswahl nicht darauf an, ob eine ausreichende Versorgung besteht.
Dies die rechtliche Bewertung. Moralisch und sozialpolitisch kann man sicher geteilter Meinung sein.
Bei richtiger Sozialauswahl hätte es eine junge Juristin und Mutter “getroffen“, die erst einige Jahre beim Verband beschäftigt ist. Auch wir können uns dem Argument der Arbeitgeberseite, lieber den bereits ausreichend versorgten Rentner in den Ruhestand zu schicken, statt einem jungen Menschen seine Existenzgrundlage zu nehmen, nur schwer entziehen. Sicher wird es Fälle geben, wo der Betroffene auch nach Erreichen der Regelaltersgrenze wirtschaftlich darauf angewiesen ist, weiter zu arbeiten. Ein solcher Fall liegt hier aber nicht vor. Inwiefern es um das ideelle Anliegen der beruflichen Selbstverwirklichung geht - auf das das BAG abstellt - oder doch nur “ums Recht“, wird allein der Kläger wissen.
Das Urteil des Bundesarbeitsgericht vom 11.02.2015 (7 AZR 17/13) können Sie hier nachlesen.