Netto kündigt wegen Bonbon-Lutschens und verliert
Netto kündigt wegen Bonbon-Lutschens und verliert

Angela Webster arbeitet seit 2009 als Kassiererin in Teilzeit für den Netto Marken Discount. Die 43 Jährige, Mitglied der Gewerkschaft ver.di, nimmt nicht alles hin was in ihrem Arbeitsverhältnis abläuft. Dieses Hinterfragen hat seit 2014 zu mehreren Auseinandersetzungen über die Gestaltung der Arbeitszeiten und die ordnungsgemäße Erfassung der Arbeitszeiten geführt. Unter anderem stellte sich heraus, dass sich bei ihr während Krankheitszeiten Minusstunden ansammelten.
Die Arbeitgeberin reagierte zunächst mit einer Abmahnung und dann im Juli 2015 mit der fristlosen Kündigung.

Loswerden einer unbequemen Mitarbeiterin

Aufgrund der Vorgeschichte liegt hier die Vermutung nahe, Netto versuche, auf diese Art und Weise eine unbequeme Mitarbeiterin loszuwerden. Und dieser Eindruck bleibt bis zuletzt, denn die Kündigungsgründe ließen sich im Verfahren nicht halten.

Frau Webster hatte sich nach Erhalt der Kündigung an ihre Gewerkschaft gewandt und erhielt wie auch in den Verfahren zuvor Unterstützung durch den DGB Rechtsschutz in Paderborn, von wo aus Kündigungsschutzklage beim örtlichen Arbeitsgericht erhoben wurde.

Der Vorwurf: Frau Webster habe an der Kasse Bonbons gelutscht, habe sich gegenüber einem Kunden über das Arbeiten bei der Fa. Netto ausgelassen und ein Bonbon sei dabei auf die Ware eines Kunden gefallen.

Kundenbeschwerde ein Fake?

Dieser Sachverhalt sei bekannt geworden durch eine Kundenbeschwerde, die Netto per Mail erreicht haben soll. Und da lag auch schon das erste Problem für den Discounter, der im Kündigungsschutzverfahren vor dem Arbeitsgericht Paderborn darlegen musste, weshalb fristlos gekündigt wurde.
Angefangen dabei, dass der Kunde die Klägerin namentlich benannt haben soll und die Beklagte nicht erklären konnte, woher der dieser den Namen der Kassiererin kannte. Denn das Namensschild trug Frau Webster nicht einsehbar unter einer Jacke.
Und da der Kunde bezeichnenderweise nicht als Zeuge benannt wurde, konnte das auch nicht aufgeklärt werden. Beweis angetreten hatte Netto durch Zeugnis zweier Mitarbeiter, die mit dem Kunden telefoniert haben sollen. Ein unzulässiges Beweisangebot („Hörensagen“), worauf der vorsitzende Richter zu Recht hinwies.   
Das Gericht hatte auch aufgrund der Formulierung der E-Mail seine Bedenken und schätze den Inhalt als unglaubwürdig ein.

Von Netto benannte Zeugen waren gar nicht anwesend

Zur Untermauerung der angeblichen Kundenbeschwerde benannte die Fa. Netto zwar Zeugen, aber nicht den Kunden, sondern zwei Mitarbeiter, die nach dem Vorfall befragt, diesen bestätigt hätten. Rechtsschutzsekretär Siegried Schuster, der Frau Webster im Verfahren vertrat, setzte dem entgegen, dass die angeblichen Zeugen zur genannten Zeit gar nicht in der Filiale anwesend waren. Und in der Tat stellte sich heraus: Die zum Beweis genannte Mitarbeiterin hatte an dem Tag (und in der ganzen Woche!) Urlaub und der als Zeuge angegebene Azubi hatte um 16 Uhr Feierabend. Der Vorfall sollte sich aber zwischen 17 und 18 Uhr ereignet haben.

Betriebsratsanhörung fehlerhaft wegen Täuschung

Damit endeten die Probleme der Fa. Netto in diesem Rechtsstreit aber nicht. Zur Klageabweisung führte nämlich schon etwas anderes: Ein Fehler in der Betriebsratsanhörung. In seiner Anhörung ging die Arbeitgeberin auch auf eine Abmahnung ein, die es schon gar nicht mehr gab. Denn gegen diese war geklagt worden und im Beisein von Frau Webster war die Abmahnung in einem Personalgespräch gelöscht worden. Wenn die Beklagte diese Abmahnung gegenüber dem Betriebsrat in dessen Anhörung zur Kündigung angibt, macht dies die Betriebsratsanhörung fehlerhaft, so das Arbeitsgericht Paderborn. Der vorsitzende Richter sprach sogar von Täuschung, da in der Anhörung gegenüber dem Betriebsrat behauptet wurde, die Abmahnung sei nicht entfernt worden.   

Und: Allein schon die fehlerhafte Anhörung führt nach § 102 BetrVG zu einer unwirksamen Kündigung. Das Arbeitsgericht gab mit dieser Begründung der Klage statt, machte aber auch deutlich, dass die Beklagte die Kündigungsgründe nicht hinreichend dargelegt hat. Ganz klar hätte das Bonbon-Lutschen allein ohnehin keine Kündigung gerechtfertigt.

„Die Wahrheit ist nicht käuflich“

So Angela Webster, die aufgrund dieser Überzeugung nicht davon abweicht, an ihrem Arbeitsverhältnis festzuhalten. Die von Netto angebotene Abfindung lehnt sie bis zum Schluss ab.

Und dies obwohl mit weiteren Problemen zu rechnen sein wird. Erfolglos endete ein früheres Verfahren, in dem aus gesundheitlichen Gründen ein Einsatz von sechs Stunden an vier Tagen in der Woche gefordert wurde. So wurden die 24-Wochenstunden zunächst aufgeteilt, dann wurde ein Einsatz für acht Stunden an drei Wochentagen gefordert. Sogar über ein Betriebliches Eingliederungsmanagement war durch die Gewerkschaft ver.di versucht worden, die Arbeitgeberin zum alten Arbeitszeit-Modell zu bewegen. Diese weigerte sich aber und die deswegen erhobene Klage wurde abgewiesen. 
Da bei Frau Webster mittlerweile eine Gleichstellung mit einem schwerbehinderten Menschen anerkannt ist, könnte erneut versucht werden, zum alten Arbeitszeit-Modell zurückzukommen. Und vielleicht wird auch das nicht ohne weitere rechtliche Schritte gehen.

Anmerkung der Redaktion:

Als nächstes möchte Angela Webster für den Betriebsrat kandidieren, um auch anderen Mitarbeitern helfen zu können. Wir ziehen unseren Hut vor dieser Frau, die sich nicht schrecken und sich nicht mal ihre gute Laune verderben lässt.

Der Rechtsstreit und die Hintergründen dazu lassen die zur Edeka AG gehörenden Netto-Marken-Discount GmbH & Co. KG als Arbeitgeberin nicht in einem guten Licht dastehen.
Angefangen dabei, dass direkt eine fristlose Kündigung ausgesprochen wurde, ohne dass es in der Vergangenheit zu Fehlverhalten der Mitarbeiterin gekommen war. Eine fristlose Kündigung sollte immer das letzte Mittel sein. Und die Umstände lassen uns vermuten, dass der ganze Vorfall fingiert war. Umso erfreulicher, dass die Arbeitgeberin mit dem Versuch, Frau Webster auf diese Art und Weise loszuwerden, gescheitert ist.  

Sobald das Urteil des Arbeitsgerichts Paderborn vorliegt, werden wir dieses im Volltext zur Verfügung stellen.

Netto hat keine Berufung beim Landesarbeitsgericht Hamm eingelegt. Aufgrund der deutlichen Worte der Paderborner Richter, wäre dies auch verwunderlich gewesen, aber möglich. Frau Webster ist wegen Schließung ihrer alten Filiale versetzt worden, wird aber wieder beschäftigt.

 

Die Sendung Frontal 21 vom 8.3.16 kann in der ZDF Mediathek nachgeschaut werden.