„Jede Person, die einer Straftat angeklagt ist, gilt bis zum gesetzlichen Beweis ihrer Schuld als unschuldig.“ So lautet der zweite Absatz von Art. 6 EMRK (Europäische Menschenrechtskonvention).
Diesen Grundsatz kennt jeder. Was allerdings nicht bekannt ist: Die Unschuldsvermutung gibt es im Arbeitsrecht nicht. Ein Beschäftigter darf allein wegen eines Verdachts einer Straftat gekündigt werden. Die Rechtsprechung hat dazu die Möglichkeit der Verdachtskündigung entwickelt.
Verdachtskündigung verstößt gegen Menschrechte
Wir sprechen uns klar gegen die Verdachtskündigung aus.
Es geht zwar für den Betroffenen nicht um eine Verurteilung zu einer Strafe, aber er kann immerhin seinen Arbeitsplatz verlieren. Es ist nicht einsehbar, weshalb ein Beschäftigter bei einer nicht erwiesenen Tat seinen Arbeitsplatz und damit seine Existenzgrundlage verlieren soll. Das Risiko, dass der Arbeitgeber einen unschuldigen Mitarbeiter kündigt, ist immens groß. Bereits vor 40 Jahren fragte der Präsident eines Landearbeitsgerichts, ob man ein Rechtsentwicklung fortbestehen lassen dürfe, bei der gewissermaßen nur ein 50%-iger Trefferfolg verbürgt ist. Diese Quote hat sich in den darauffolgenden Jahren sicher nicht verbessert.
Viele Arbeitsrechtler haben erhebliche Bedenken und üben Kritik an der Verdachtskündigung. Sie sehen wie wir einen Verstoß gegen die Unschuldsvermutung des Art. 6 EMRK. Sie sind außerdem der Ansicht, das Interesse der Beschäftigten, nicht schuldlos gekündigt zu werden, sei wichtiger als die Interessen des Arbeitgebers stehen.
Keine Unschuldsvermutung im Arbeitsrecht
Das Bundesarbeitsgericht (BAG) als höchstes deutsches Gericht in Arbeitssachen hält allerdings bedauerlicherweise immer noch an der Verdachtskündigung fest. Auch die Unschuldsvermutung stehe dieser Kündigungsart nicht entgegen. Der Arbeitgeber, der eine Kündigung ausspricht, müsse die Unschuldsvermutung nicht beachten. Diese richte sich nur an Richter, nicht an Privatpersonen. Zudem stelle die Kündigung keine Sanktion dar.
Die Frage, ob an der Verdachtskündigung festgehalten werden soll, wurde zuletzt im Zusammenhang mit dem Fall „Emmely“ diskutiert. Der Arbeitgeber hatte einer Verkäuferin wegen des Verdachts, Pfandbons entwenden zu haben, gekündigt. Die Gewerkschaft ver.di hatte eine Solidaritätskampagne für die gekündigte Arbeitnehmerin ins Leben gerufen und auch die Verdachtskündigung erneut in Frage gestellt. Soweit die Verdachtskündigung betroffen ist, hat sich aus dem viel diskutierten Urteil des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg im Ergebnis allerdings keine neue Bewertung ergeben.
Kein ausreichender Schutz für Beschäftigte
Die deutsche Rechtsprechung berücksichtigt die Unschuldsvermutung bei der Verdachtskündigung nicht. Sie ist der Ansicht, die strengen Voraussetzungen, die an die Rechtmäßigkeit einer solchen Kündigung gestellt werden, würden ausreichend Schutz für die Arbeitnehmerschaft bieten.
Wir halten diese Voraussetzungen nicht für einen ausreichenden Schutz. Der Hinweis auf die Aufklärungspflicht der Arbeitgeber wird schon durch die hohe Fehlerquote widerlegt. Außerdem genügt es nicht, darauf zu vertrauen, dass der Arbeitgeber alles zumutbare zur Aufklärung unternommen hat. Was genau dies bedeutet, bleibt ohnehin unklar. Zudem hat gerade ein kleiner Betrieb oft gar keine Möglichkeiten zur Aufklärung.
Wir halten deshalb die Rechtsprechung des BAG für bedenklich. Die Verdachtskündigung birgt in sich das hohe Risiko, einem unschuldigen Beschäftigten die Lebensgrundlage zu entziehen. Sie sollte deshalb abgeschafft werden. Es ist nicht hinnehmbar, dass die Unschuldsvermutung in einem so elementaren Lebensbereich wie dem Arbeitsverhältnis nicht gelten soll.
Beschwerde an den Europäischen Gerichtshof für Menschrechte
Vom Gesetzgeber ist keine Hilfe zu erwarten. Bereits im Jahr 2011 scheiterte eine Gesetzesinitiative zum Verbot der Verdachtskündigung.
Wir bauen deshalb darauf, dass ein Betroffener seinen Fall dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vorlegen wird. Aufgrund der starren Haltung des Gesetzgebers und der deutschen Arbeitsrichter wird sich ein Wandel in der Frage der Zulässigkeit der Verdachtskündigung allenfalls über die Europäische Gerichtsbarkeit erreichen lassen.
Silke Clasvorbeck, Bielefeld
Michael Mey, Hagen
Rechtliche Grundlagen
EUROPÄISCHE MENSCHENRECHTSKONVENTION Abschnitt I - Rechte und Freiheiten (Art. 2 - 18) Artikel 6 Recht auf ein faires Verfahren
(2) Jede Person, die einer Straftat angeklagt ist, gilt bis zum gesetzlichen Beweis ihrer Schuld als unschuldig.
(3) Jede angeklagte Person hat mindestens folgende Rechte:
a) innerhalb möglichst kurzer Frist in einer ihr verständlichen Sprache in allen Einzelheiten über Art und Grund der gegen sie erhobenen Beschuldigung unterrichtet zu werden;
b) ausreichende Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung ihrer Verteidigung zu haben;
c) sich selbst zu verteidigen, sich durch einen Verteidiger ihrer Wahl verteidigen zu lassen oder, falls ihr die Mittel zur Bezahlung fehlen, unentgeltlich den Beistand eines Verteidigers zu erhalten, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist;
d) Fragen an Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen und die Ladung und Vernehmung von Entlastungszeugen unter denselben Bedingungen zu erwirken, wie sie für Belastungszeugen gelten;
e) unentgeltliche Unterstützung durch einen Dolmetscher zu erhalten, wenn sie die Verhandlungssprache des Gerichts nicht versteht oder spricht.
EUROPÄISCHE MENSCHENRECHTSKONVENTION
Die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) ist seit 1953 wesentlicher Garant für den Schutz von Menschen- und Bürgerrechten in Europa. Die Konvention wurde 1950 im Rahmen des Europarates ausgearbeitet und gilt mittlerweile in allen 47 Mitgliedstaaten.
Die elementaren Freiheitsrechte der EMRK - vom Recht auf Leben bis zum Folterverbot, vom Recht auf ein faires Verfahren bis zur Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit – gelten so von Portugal bis nach Sibirien. Die Durchsetzung dieser Rechte durch die Vertragsstaaten wird vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) geprüft. Jeder Bürger in einem der 47 Vertragsstaaten kann sich direkt an dieses Gericht wenden, wenn er glaubt in seinen Rechten aus der Konvention verletzt worden zu sein. Daneben kann auch ein Vertragsstaat den Gerichtshof wegen der Verletzung der EMRK durch einen anderen Vertragsstaat anrufen.
Dass die Menschenrechtskonvention auch nach über 50 Jahren einen hohen Stellenwert für den Menschenrechtsschutz in Europa hat, zeigt sich unter anderem an den Bemühungen der Europäischen Union der EMRK beizutreten. Mit dem Lissabonner Vertrag wurden hierfür die rechtlichen Grundlagen geschaffen.
Derzeit wird im Rahmen der Beitrittsverhandlungen eine Reihe von Rechtsfragen geklärt. Das Bundesministerium der Justiz unterstützt die zügige Verwirklichung des Beitrittsprozesses. Mit dem Beitritt wird die EMRK verbindliche Grundlage für alle Rechtsakte der EU.
http://www.bmj.de/DE/Buerger/buergerMenschrechte/EuropaeischeMenschenrechtskonvention/menschenrechte_emrk_node.html