Hartz IV-Ausschluss für Ausländer Europarechtswidrig?
Silke Clasvorbeck - Bielefeld
Hartz IV-Ausschluss für Ausländer Europarechtswidrig? Silke Clasvorbeck - Bielefeld

Das Zweite Sozialgesetzbuch regelt einen Leistungsausschluss für Unionsbürger, die sich allein zum Zwecke der Arbeitssuche in der Bundesrepublik aufhalten. Diese Regelung sorgt schon lange für Gesprächsstoff und für allerhand – unterschiedliche – Entscheidungen der örtlichen Sozialgerichte und der Landessozialgerichte. Das Sozialgericht Dortmund hat einer spanischen Familie, die im Sommer 2013 eingereist ist, nun in einem einstweiligen Rechtsschutzverfahren Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II zugesprochen.

Der Fall

Die 6-köpfige spanische Familie, die neben Kindergeld und dem Verdienst aus zwei geringfügigen Beschäftigungen über kein Einkommen verfügt, beantragte Arbeitslosengeld II vom örtlichen Jobcenter in Iserlohn. Das wurde abgelehnt unter Verweis auf die Vorschrift des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II. Danach erhalten Ausländer*Innen, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt, keine Leistungen aus dem SGB II.

Die Familie erhob gegen den ablehnenden Bescheid Widerspruch und leitetet zudem – wegen der Dringlichkeit – ein Verfahren auf einstweiligen Rechtsschutz beim Sozialgericht Dortmund ein.

Die Entscheidung

Das Sozialgericht Dortmund verpflichtete das Jobcenter im Wege der einstweiligen Anordnung, der Familie Leistungen nach dem SGB II zu gewähren. Das Gericht hat eine Folgenabwägung gemacht, da in dem Eilverfahren nicht abschließend geklärt werden konnte, ob ein Anspruch auf Arbeitslosengeld II besteht. Die Familie ist aufgrund des Einkommens hilfebedürftig und ein Teil der Familienmitglieder ist auch erwerbsfähig. Was nicht zu klären war, ist die Frage, ob hier der gesetzliche Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II greift. Leistungen nach dem SGB II werden danach ausgeschlossen, wenn sich das Aufenthaltsrecht allein aus dem Zwecke der Arbeitssuche ergibt. Das Gericht ließ es dahin stehen, ob überhaupt alle Familienmitglieder unter diese Regelung fallen könnten. Denn es hat grundsätzlich erhebliche Zweifel, ob der Leistungsausschluss mit dem Gemeinschaftsrecht der Europäischen Union vereinbar ist.

Die Folgenabwägung muss nach dem Sozialgericht zugunsten der Familie ausfallen, da dieser  ohne die Grundsicherungsleistungen existenzielle Nachteile drohten, die sie aus eigener Kraft nicht abwenden könne.

Verstößt der Leistungsausschluss gegen Europäisches Recht?    

Es stellt sich die Frage, ob und inwieweit der Gesetzgeber mit dem fraglichen Leistungsausschluss die sogenannte Unionsbürgerrichtlinie umgesetzt hat und ob diese als Ermächtigungsgrundlage dienen kann. Denn Art. 24 der Richtlinie ermöglicht den Ausschluss von Ansprüchen der Sozialhilfe. Auch wenn mit den Hartz IV-Gesetzen das Arbeitslosengeld II die frühere Sozialhilfe sozusagen abgelöst hat, ist die Frage, ob es hier um Ansprüche aus der Sozialhilfe geht, rechtlich schwer zu beantworten und wird von den Landessozialgerichten unterschiedlich beurteilt.

Das nordrhein-westfälische Landessozialgericht zum Beispiel sieht den ausnahmslosen Leistungsausschluss für arbeitssuchende EU-Bürger als europarechtswidrig an (Landessozialgerichts NRW vom 28.11.2013,  Az. L 6 AS 130/13). Andere Landessozialgerichte legen den Ausschlusstatbestand unionsrechtlich dahingehend einschränkend aus, dass die Sozialhilfeleistungen zustehen, wenn sie nicht unangemessen in Anspruch genommen werden. Dabei sind Personen ohne tatsächliche Verbindung zum Arbeitsmarkt ausgeschlossen. Das Spektrum der Entscheidungen der Landessozialgerichte reicht von Unanwendbarkeit des Leistungsausschlusses über eine vermittelnde Lösung, die nach dem Grad der Arbeitsmarktnähe differenziert, bis zu einer Europarechtskonformität des Leistungsausschlusses.

Anspruch aus Gemeinschaftsrecht?

Das SG Dortmund geht in seiner Entscheidung einem weiteren Gedankengang nach. Es hält es für möglich, dass – selbst wenn die Leistungen nach dem SGB II unter die Unionsbürgerrichtlinie fallen und damit ein Ausschluss greift – sich ein Anspruch der spanischen Familie unmittelbar aus dem Gemeinschaftsrecht ergeben könnte. Unter anderem gilt für Unionsbürger ein Gleichbehandlungsgrundsatz. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) schließt daraus, dass Unionsbürger nicht von einer finanziellen Leistung ausgenommen werden können, die den Zugang zum Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaates erleichtern soll. Das SG Dortmund bezieht sich auf die  Rechtsprechung des EuGH, wonach staatliche Leistungen zwar an gewisse Voraussetzungen geknüpft werden können, diese aber auf objektiven Erwägungen beruhen müssen, die unabhängig von der Staatsangehörigkeit sind und im angemessenen Verhältnis zum Zweck der Leistung stehen. Sich darauf beziehend hat das Sozialgericht starke Zweifel, ob der Leistungsausschluss aus § 7 SGB II europarechtskonform ist. Denn diese Regelung knüpft ausschließlich an die Staatsangehörigkeit an.

Vorlagebeschluss des Bundessozialgerichts

Auch das Bundessozialgericht (BSG) hat seine Zweifel, ob der Leistungsausschluss für Ausländer bei Aufenthalt zur Arbeitssuche mit Europäischem Recht vereinbar ist. Es hatte deshalb schon in einer Entscheidung vom 12.12.2013 dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften Fragen in diesem Zusammenhang zur Vorabentscheidung vorgelegt. Unter anderem soll der EuGH beantworten, ob das Gleichbehandlungsgebot  auch für die besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen gilt. Wenn ja,  so fragt das BSG weiter - sind - gegebenenfalls in welchem Umfang - Einschränkungen des Gleichbehandlungsgebots durch Bestimmungen in nationalen Rechtsvorschriften in Umsetzung des Art. 24 der Unionsbürgerrichtlinie möglich, nach denen der Zugang zu diesen Leistungen ausnahmslos nicht besteht, wenn sich ein Aufenthaltsrecht des Unionsbürgers in dem anderen Mitgliedstaat allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt? Weiter soll der EuGH beantworten, ob Europarecht nationalen Bestimmung entgegen steht, die Unionsbürgern, die sich als Arbeitsuchende auf die Ausübung ihres Freizügigkeitsrechts berufen können, eine Sozialleistung, die der Existenzsicherung dient und gleichzeitig auch den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtert, ausnahmslos für die Zeit eines Aufenthaltsrechts nur zur Arbeitssuche und unabhängig von der Verbindung mit dem Aufnahmestaat verweigert.

Was gilt für die Zukunft?

Interessant wird für die Betroffenen zunächst sein, ob die Entscheidung des SG Dortmund eine Einzelfallentscheidung bleiben wird oder ob andere Gerichte in diesen Fällen auch - zumindest vorübergehend bis zu einer endgültigen Klärung - Arbeitslosengeld II gewähren werden.

Die Erfahrung zeigt, dass die Jobcenter die Debatte um die mögliche Europarechtswidrigkeit des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II weitestgehend ausblenden und Leistungen weiter unter Berufung auf die Vorschrift ablehnen. Auch in einem Widerspruchsverfahren wird nicht damit zu rechnen sein, dass eine Entscheidung abgeändert werden wird. In einem eigenen Verfahren haben wir dem Jobcenter unsere Ansicht mitgeteilt, dass es bis zu einer Klärung verpflichtet ist, zumindest vorübergehend Leistungen zu gewähren. Die erbetene  Stellungnahme blieb aus. Der Weg über ein einstweiliges Rechtsschutzverfahren, den die spanische Familie gewählt hat, scheint momentan der mit den größten Erfolgsaussichten zu sein.

Die Antworten des EuGH sind für Alle mit Spannung abzuwarten, da es hier nicht nur um eine rechtlich interessante Fragestellungen geht, sondern letztlich auch um volkswirtschaftliche Auswirkungen.

 

Silke Clasvorbeck - Bielefeld

 

Download:

Beschluss des SG Dortmund vom 22.01.2014, S 19 AS 5107/13 ER

Pressemitteilung zum Urteil LSG NRW vom 28.11.2013,  Az. L 6 AS 130/13

EuGH-Vorlage des BSG vom 12.12.2013, B 4 AS 9/13 R

Rechtliche Grundlagen

§ 7 SGB II und EU Rechtsnormen

§ 7 Sozialgesetzbuch (SGB) Zweites Buch (II) - Grundsicherung für Arbeitsuchende -(Auszug)
(1) Leistungen nach diesem Buch erhalten Personen, die
1. das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a noch nicht erreicht haben,
2. erwerbsfähig sind,
3. hilfebedürftig sind und
4. ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben
(erwerbsfähige Leistungsberechtigte). Ausgenommen sind
1. Ausländerinnen und Ausländer, die weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmer oder Selbständige noch aufgrund des § 2 Absatz 3 des Freizügigkeitsgesetzes/EU freizügigkeitsberechtigt sind, und ihre Familienangehörigen für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts,
2. Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre Familienangehörigen,
3. Leistungsberechtigte nach § 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes.
Satz 2 Nummer 1 gilt nicht für Ausländerinnen und Ausländer, die sich mit einem Aufenthaltstitel nach Kapitel 2 Abschnitt 5 des Aufenthaltsgesetzes in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten. Aufenthaltsrechtliche Bestimmungen bleiben unberührt.
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Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union
Artikel 18 (ex-Artikel 12 EGV)
Unbeschadet besonderer Bestimmungen der Verträge ist in ihrem Anwendungsbereich jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verboten.
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RICHTLINIE 2004/38/EG DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTSUND DES RATES
vom 29. April 2004
über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG.
Artikel 24
Gleichbehandlung
(1) Vorbehaltlich spezifischer und ausdrücklich im Vertrag und im abgeleiteten Recht vor-
gesehener Bestimmungen genießt jeder Unionsbürger, der sich aufgrund dieser Richtlinie im
Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats aufhält im Anwendungsbereich des Vertrags die gleiche
Behandlung wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats. Das Recht auf Gleichbehandlung er-
streckt sich auch auf Familienangehörige, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und das Recht auf Aufenthalt oder das Recht auf Daueraufenthalt genießen.
(2) Abweichend von Absatz 1 ist der Aufnahmemitgliedstaat jedoch nicht verpflichtet,
anderen Personen als Arbeitnehmern oder Selbstständigen, Personen, denen dieser
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VERORDNUNG (EG) Nr. 883/2004 DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES vom 29. April 2004

Artikel 4
Gleichbehandlung
Sofern in dieser Verordnung nichts anderes bestimmt ist, haben Personen, für die diese Verordnung gilt, die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie die Staatsangehörigen dieses Staates.