In Abkehr von der langjährigen Rechtsprechung, wonach die persönliche Teilnahme der Betriebsleitung Voraussetzung für den Unfallversicherungsschutz war, ist dies für die Anerkennung einer einvernehmlichen betrieblichen Gemeinschaftsveranstaltung nicht mehr erforderlich.
Die Klägerin ist als Sozialversicherungsfachangestellte bei der Deutschen Rentenversicherung (DRV) der Dienststelle Kassel, die insgesamt 230 Mitarbeiter*innen hat, tätig.
Im Rahmen einer Dienstbesprechung, an der der Dienststellenleiter teilnahm, wurde beschlossen, dass auch im Jahre 2010 - wie in den Vorjahren - sachgebietsinterne Weihnachtsfeiern stattfinden dürfen.
Weihnachtsfeier auf Sachgebietsebene
Diese Weihnachtsfeiern der Sachgebiete durften jeweils frühestens um 12.00 Uhr beginnen und waren durch Betätigung der Zeiterfassung zu dokumentieren. Der Büroleitung waren die Termine sowie der voraussichtliche Beginn rechtzeitig bekannt zu geben. Die Teilnehmer*innen erhielten eine Zeitgutschrift in Höhe von 10 % der wöchentlichen Arbeitszeit.
Die Einladung erging durch die Sachgebietsleiterin. Sie kündigte die Veranstaltung an und lud alle Mitarbeiter*innen des Sachgebiets ein. Nach einem gemeinsamen Kaffeetrinken in den Räumen der Dienststelle machten sich die zehn teilnehmenden Personen, darunter die Sachgebietsleiterin, auf den Weg zu einer gemeinsamen Wanderung. Hierbei rutschte die Klägerin aus zog sich Verletzungen zu.
Die Beklagte lehnte die Anerkennung des Unfalls als Arbeitsunfall ab. Das Sozialgericht Kassel hat festgestellt, dass das Unfallereignis ein Arbeitsunfall war. Das Hessische Landessozialgericht hat das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen.
DGB Rechtsschutz legt Nichtzulassungsbeschwerde ein
Nachdem das Hessische Landessozialgericht die Revision zum Bundesozialgericht nicht zugelassen hatte, legte das Gewerkschaftliche Centrum für Revision und Europäisches Recht der DGB Rechtsschutz GmbH Nichtzulassungsbeschwerde gegen die zweitinstanzliche Entscheidung ein und hatte damit Erfolg.
Die dann auch über den DGB Rechtsschutz vertretene Revision war ebenfalls erfolgreich und führte zu einer Änderung der langjährigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, wonach die persönliche Teilnahme der Betriebsleitung Voraussetzung war um dem Unfallversicherungsschutz zu unterliegen.
Einvernehmen mit der Betriebsleitung erforderlich
Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ist auch die Teilnahme an einer betrieblichen Gemeinschaftsveranstaltung als Ausprägung der Beschäftigtenversicherung gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 1 Sozialgesetzbuch VII versichert.
Hierfür war es bereits nach bisheriger Rechtsprechung zunächst erforderlich, dass die Veranstaltung "im Einvernehmen" mit der Betriebsleitung stattfand. Für ein solches "Einvernehmen" reichte es aus, wenn der Dienststellenleiter in einer Dienstbesprechung mit den jeweiligen Sachgebietsleitern vereinbart, dass die jeweiligen Sachgebiete Weihnachtsfeiern veranstalten dürfen und weitere Festlegungen (Beginn, Zeitgutschrift etc.) getroffen werden.
Durch die Gesamtheit dieser - zudem seit Jahren praktizierten - Vereinbarungen wird hinreichend deutlich, dass die Feiern der einzelnen Sachgebiete im Einvernehmen mit der Behördenleitung und damit im dienstlichen Interesse stattfanden.
Unternehmensleitung muss nicht mehr persönlich anwesend sein
Soweit das Bundessozialgericht bislang als weiteres Kriterium für versicherte betriebliche Gemeinschaftsveranstaltungen darauf abstellte, dass die Unternehmensleitung persönlich an der Feier teilnehmen muss, wird hieran nicht länger festgehalten.
Betriebliche Gemeinschaftsveranstaltungen stehen unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung, weil durch sie das Betriebsklima gefördert und der Zusammenhalt der Beschäftigten untereinander gestärkt wird. Dieser Zweck wird auch erreicht und gefördert, wenn kleinere Untergliederungen eines Betriebes Gemeinschaftsveranstaltungen durchführen. Die Teilnahme der Betriebsleitung oder des Unternehmers persönlich ist hierfür nicht mehr erforderlich.
Ausreichend ist daher, wenn durch eine betriebliche Gemeinschaftsveranstaltung die Verbundenheit und das Gemeinschaftsgefühl der Beschäftigten in dem jeweiligen Sachgebiet oder Team gefördert wird. Notwendig ist dafür lediglich, dass die Feier allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des jeweiligen Teams offen stand und die jeweilige Sachgebiets- oder Teamleitung teilnimmt. Dies war hier der Fall, weil die von der Dienststellenleitung ermächtigte Sachgebietsleiterin alle Beschäftigten ihres Sachgebiets eingeladen hatte und die Feier durchführte. Auf die tatsächliche Anzahl der Teilnehmenden kommt es nicht an.
Anmerkung:
Der Versicherungsschutz bei betrieblichen Gemeinschaftsveranstaltungen beruht auf richterlicher Rechtsfortbildung, die schon lange vor Gründung des Bundessozialgerichts ihre Anfänge in der Rechtsprechung des Reichsversicherungsamtes hatte. Die vom Bundessozialgericht im Jahr 1955 begründete Rechtsprechungsägide war natürlich auch an den Verhältnissen der Arbeits-, Betriebs- und Verwaltungsstruktur dieser Zeit orientiert.
Die organisatorischen Veränderungen in der heutigen Arbeitswelt können auch zu einer anderen Rechtsauslegung – stets am Sinn und Zweck des Rechts orientiert – führen. Insoweit hat das Bundessozialgericht mit seinem Urteil den Gedanken umgesetzt, den es bereits in seinem Urteil vom 26.6.2014, B 2 U 7/13 R, Rn 15, ansprach, damals aber aus tatsächlichen Gründen in der Sachverhaltsgestaltung (noch) nicht umsetzte.
Das Urteil des Bundessozialgerichts vom 05.07.2016 gibt in der betrieblichen Praxis Sicherheit, unter welchen Konstellationen Beschäftigte bei Teilnahme an betrieblichen Gemeinschaftsveranstaltungen von Arbeitsteams, an denen der „Chef“ (Betriebsleiter, Dienststellenleiter, Geschäftsführer) nicht teilnimmt, die aber initiiert durch Rahmenvorgaben der Leitung durchgeführt werden, Unfallversicherungsschutz nach dem siebten Sozialgesetzbuch haben.
Link zur Pressemitteilung des Bundessozialgerichts vom 05.07.2016: