An einem Samstagnachmittag im Juli 2021 arbeitete der junge Mann zusammen mit zwei Kollegen aus seinem Ausbildungsbetrieb auf einer Baustelle, einer davon ein Vorarbeiter. Der Bauherr hatte das Material gestellt und die drei Männer sollten das Dach umdecken.
Tiefer Sturz verursacht schwerste Verletzungen
Bei den Dacharbeiten stürzte der Azubi etwa fünf Meter tief auf eine Betondecke. Die Verletzungen waren gravierend. Um nur einen Teil zu nennen: Polytrauma, schweres Schädel-Hirntrauma mit inneren Blutungen, multiple Knochenbrüche – auch im Bereich des Schädels und der Wirbelsäule, Lungenkontusionen.
Die BG ermittelte zum Unfallgeschehen. Das berufsgenossenschaftliche Regelwerk zur Arbeitssicherheit sei vollständig missachtet worden.
Berufsgenossenschaft stellt keinen Arbeitsunfall fest
Der Azubi habe im Unfallzeitpunkt das Dach nicht im Rahmen seines Ausbildungsverhältnisses gedeckt, sondern sei außerhalb seiner Ausbildungszeit dort tätig gewesen.
Das begründete die BG damit, dass der Auftrag für die Dacheindeckung nicht an die Firma ging, wo der Azubi seine Ausbildung gemacht hat, sondern an die drei Mitarbeiter als Privatpersonen.
Zwar könne auch eine Privatperson unfallversichert sein, wenn sie wie ein Beschäftigter tätig werde. Nach ihren Ermittlungen jedoch sei der Azubi unternehmerähnlich tätig geworden, was eine Wie-Beschäftigung ausschließe. Er habe nämlich dem Bauherrn nicht uneigennützig bei Bauarbeiten geholfen, sondern die Dacheindeckung gegen einen vereinbarten Pauschalpreis zugesagt. Der Werkvertragscharakter werde auch dadurch bestätigt, dass der Bauherr mittlerweile eine gewerbliche Firma beauftragt habe. Durch seine besonderen Fachkenntnisse sei es dem Azubi möglich gewesen, eigenständig und weisungsfrei gegenüber dem Bauherrn tätig zu werden. Der Bauherr habe lediglich zugearbeitet. Insgesamt sei daher die Tätigkeit am Unfalltag als unternehmerähnlich zu bewerten, so dass kein Versicherungsschutz bestanden habe.
Auf erfolglosen Widerspruch folgt die Klage beim Sozialgericht
Der DGB Rechtsschutz Hannover verfolgte für den jungen Mann das Ziel, dass die Arbeit am Unfalltag unter dem Versicherungsschutz der BG stand und damit ein Arbeitsunfall anerkannt wird.
Der Kläger sei im Unfallzeitpunkt als Auszubildender des Ausbildungsbetriebs tätig gewesen. Er selbst habe mit dem Bauherrn keine Vergütungsabsprache getroffen und keine Gewinnerzielungsabsicht gehabt. Es sei lebensfremd, anzunehmen, dass der Kläger als Auszubildender einen Auftrag ausgehandelt habe.
Wer hat was mit wem ausgehandelt?
Die BG verblieb bei ihrer Meinung. Der Ausbildungsbetrieb habe keinen Auftrag für Dacharbeiten von dem Bauherrn erhalten. Auch seien die Arbeiten außerhalb der Firmenarbeitszeiten an einem Samstag ausgeführt worden. Zwar habe der eine beteiligte Kollege, der Vorarbeiter im Ausbildungsbetrieb war, mitgeteilt, für die Firma tätig gewesen zu sein. Der andere Kollege jedoch habe angegeben, der Vorarbeiter habe den Auftrag direkt vom Bauherrn erhalten, und es sei mündlich vereinbart worden, dass alle drei Männer gleichberechtigt die Dacharbeiten ausführen sollten.
Der Bauherr wiederum habe mitgeteilt, er habe unter Vermittlung des Vorarbeiters den Auftrag an die Dachdeckerfirma vergeben, was der Firmenchef allerdings verneinte. Die drei Männer seien auf eigene Rechnung tätig geworden. Diese Schilderung müsse man der rechtlichen Bewertung zugrunde legen, da die Aussage des Bauherrn nicht überzeuge.
Der gewerkschaftliche Rechtsschutz setzte dem entgegen, dass der Kläger auf Weisung seines Arbeitgebers tätig war und seine Arbeitsleistung nach Weisung des Vorarbeiters ausgeführt hat. Der Kläger trug Firmenkleidung und nutzte Arbeitswerkzeug des Ausbildungsbetriebs. Außer der
regulären Ausbildungsvergütung erhielt er keine Vergütung für die Tätigkeit auf der Baustelle.
Arbeitsunfälle sind Unfälle von Versicherten infolge einer versicherten Tätigkeit
Der Kläger erlitt einen Unfall und dadurch Verletzungen. Soviel steht fest. Für einen Arbeitsunfall ist erforderlich, dass die Tätigkeit des Versicherten zur Zeit des Unfalls der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist (innerer bzw. sachlicher Zusammenhang). Rechtlich kam es im Gerichtsverfahren also darauf an, ob der Kläger den Unfall auch infolge versicherter Tätigkeit erlitten hat.
Das bejahte das Sozialgericht hier. Dabei ging es wie die BG nicht davon aus, dass sich der Unfall während der Tätigkeit des Klägers im Rahmen seines regulären Beschäftigungsverhältnisses bei der Dachdeckerfirma ereignet hat. Anders als die BG jedoch meint, sei der Kläger im Unfallzeitpunkt nicht wie ein Unternehmer tätig gewesen, was dem Versicherungsschutz entgegenstünde, sondern als sog. Wie-Beschäftigter.
Wann liegt eine Beschäftigung vor?
Beschäftigung im Sinne des Sozialgesetzbuches (§ 7 Abs. 1 SGB IV) ist die nichtselbstständige Arbeit. Eine Beschäftigung liegt daher immer dann vor, wenn ein Arbeitsverhältnis besteht. Sie kann aber auch ohne Arbeitsverhältnis gegeben sein. Anhaltspunkte für eine Beschäftigung sind eine Tätigkeit nach Weisungen und eine Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Weisungsgebers. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG setzt eine abhängige Beschäftigung eine persönliche Abhängigkeit des Arbeitnehmers vom Arbeitgeber voraus. Bei einer Beschäftigung in einem fremden Betrieb ist dies der Fall, wenn der Beschäftigte in den Betrieb eingegliedert ist und dabei einem Weisungsrecht des Arbeitgebers zu Zeit, Dauer, Ort und Art der Ausführung unterliegt. Diese Weisungsgebundenheit kann eingeschränkt sein. Ausschlaggebend ist die persönliche Abhängigkeit bei der Dienstleistung, die mit einer wirtschaftlichen Abhängigkeit einhergehen kann, aber nicht muss.
Erfasst werden darüber hinaus Personen, die wie ein Versicherter tätig werden
Dies erfordert keine persönliche Abhängigkeit von einem Unternehmer. Vielmehr ist es ausreichend, dass eine ernstliche, dem fremden Unternehmen dienende Tätigkeit ausgeübt wird, die dem wirklichen oder mutmaßlichen Willen des Unternehmers entspricht und die ungeachtet des Beweggrundes für den Entschluss, tätig zu werden, unter solchen Umständen geleistet wird, dass sie einer Tätigkeit aufgrund eines Beschäftigungsverhältnisses ähnlich ist.
Dabei wird nicht jede Tätigkeit, die einem Unternehmen objektiv nützlich und ihrer Art nach sonst üblicherweise dem allgemeinen Arbeitsmarkt zugänglich ist, beschäftigtenähnlich verrichtet. Vielmehr kommt der mit dem objektiv arbeitnehmerähnlichen Verhalten verbundenen Handlungstendenz, die vom bloßen Motiv für das Tätigwerden zu unterscheiden ist, ausschlaggebende Bedeutung zu.
Arbeitnehmerähnlichkeit im Sinne des § 2 Abs. 2 SGB VII
Für die Beurteilung ist von Bedeutung, wer beteiligt ist. Wenn der Verletzte nicht allein arbeitet, sondern zusammen mit demjenigen, der den Auftrag erteilt hat, oder mit anderen Personen, ist zumeist von einer arbeitnehmerähnlichen Tätigkeit auszugehen. Dies gilt auch, wenn der Tätigwerdende über größere fachspezifische Kenntnisse und Fähigkeiten verfügt als
derjenige, dem die Arbeitsleistung zugutekommt. Bei Zusammenarbeit mit anderen kann eine arbeitnehmerähnliche Tätigkeit zu verneinen sein, wenn der Verletzte die Leitung innehat
und federführend mitarbeitet und deshalb wie ein Werkunternehmer oder eine Person, die einen Auftrag mit Werkvertragscharakter ausführt, tätig wird.
Demgegenüber ist eine selbständige Tätigkeit vornehmlich durch das eigene wirtschaftliche Unternehmerrisiko, eine eigene Betriebsstätte und die im Wesentlichen frei gestaltete Tätigkeit und Arbeitszeit gekennzeichnet. Ob jemand beschäftigt oder selbständig ist, richtet sich danach, welche Umstände das Gesamtbild der Arbeitsleistung prägen, und hängt davon ab, welche Merkmale überwiegen.
Bei Arbeitsunfällen kommt es auch darauf an, worauf die objektivierte Handlungstendenz des Versicherten gerichtet ist. Als Unternehmer oder unternehmerähnlich handelt der Versicherte dann, wenn seine Handlungstendenz nicht auf die Belange eines fremden Unternehmens gerichtet ist, sondern er in Wirklichkeit wesentlich eigene Angelegenheiten verfolgt und ihm das Ergebnis seines Unternehmens zum unmittelbaren Vor- und Nachteil gereicht, es somit an der fremdwirtschaftlichen Zweckbestimmung fehlt.
All diese Kriterien hat das Sozialgericht angewendet. Das Ergebnis nach Ermittlungen und Beweisaufnahme:
Der Kläger hat die Dacharbeiten im Rahmen einer Wie-Beschäftigung für den Vorarbeiter und nicht als Beschäftigter der Dachdeckerfirma ausgeübt.
Kein Werkvertrag zwischen Bauherr und Ausbildungsbetrieb
Zwar stand der Kläger seinerzeit als Auszubildender in einem Beschäftigungsverhältnis bei der Dachdeckerfirma. Das Gericht glaubte hier der Aussage des Mannes, der neben dem Kläger und dem Vorarbeiter an den Dacharbeiten beteiligt war. Nach diesem Zeugen gab es keinen Werkvertrag zwischen der Firma und dem Bauherrn.
Wenn auch der Bauherr überzeugend ausgesagt hat, dass er bei der Auftragsvergabe gegenüber dem Vorarbeiter davon ausgegangen sei, es sei ein Vertragsverhältnis mit der Dachdeckerfirma begründet worden, sei ein solches nicht zustande gekommen. Denn als Vorarbeiter der Firma gab es keine Befugnis, Angebote zu erstellen oder Werkverträge zu schließen.
Das Gericht habe nach dem persönlichen Eindruck der Zeugen nach der Beweisaufnahme keinen Zweifel daran, dass der Geschäftsführer der kleinen Firma die Annahme von Aufträgen nicht in die Hände des Vorarbeiters, anderer Vorarbeiter oder sonstiger Beschäftigter gelegt hat. Gleichermaßen stehe für das Gericht fest, dass der Bauherr nicht direkt mit dem Geschäftsführer die Auftragsvergabe besprochen und einen Werkvertrag zur Dachumdeckung geschlossen habe. Beide nach dem Eindruck der Beweisaufnahme glaubwürdigen Zeugen hätten dies übereinstimmend mehrfach bestätigt.
Der Umstand, dass der Kläger sowie seine Kollegen zur Baustelle mit einem Firmenfahrzeug gefahren sind und für die Arbeiten Werkzeug der Firma benutzt haben, spreche zwar zunächst dafür, dass der Kläger als Beschäftigter der Firma tätig geworden ist. Jedoch hätten die Zeugen übereinstimmend bestätigt, dass dem Vorarbeiter die Firmenfahrzeuge, in denen sich auch das Werkzeug befindet, über das Wochenende überlassen wurde und es nicht unüblich sei, diese die Fahrzeuge für eigene Zwecke zu nutzen.
Der Kläger ist auch nicht wie ein Unternehmer tätig geworden
Auch davon war das Gericht nach der Beweisaufnahme überzeugt. Sowohl der Kläger als auch der Bauherr hätten übereinstimmend und glaubhaft bekundet, sich vor dem Unfalltag nicht gekannt zu haben. Vertragsgespräche zwischen beiden oder einen Vertragsschluss hat es demzufolge nicht gegeben.
Zwar gab es dazu eine frühere, entgegenstehende Aussage des damaligen Kollegen, der auch an den Dacharbeiten beteiligt war. Im Rahmen der Beweisaufnahme habe der Zeuge jedoch diese damalige Aussage nicht bestätigen können.
Der Kläger war als Wie-Beschäftigter des Vorarbeiters tätig
Zu diesem Schluss kamen die Richter:innen letztlich. Der Vorarbeiter habe nach der glaubhaften Aussage des Bauherrn diesem das Angebot zur Dachumdeckung gemacht und den Werkvertrag als eigener Unternehmer geschlossen.
Das Gericht sei nach dem persönlichen Eindruck von dem Kläger auch überzeugt davon, dass der Kläger keine Kenntnis hiervon hatte. Demgegenüber habe der Vorarbeiter in der Beweisaufnahme unter Berufung auf sein Zeugnisverweigerungsrecht keine Angaben dazu gemacht, wie die Auftragsvergabe vonstattengegangen sei, wobei die Tatsache der Aussageverweigerung - mit aller Vorsicht - beweiswürdigend zu seinen Lasten zu werten sei.
Beschäftigte unterliegen auch bei illegaler Tätigkeit dem sozialen Schutzzweck der gesetzlichen Unfallversicherung
Somit stand für das Gericht fest, dass der Vorarbeiter als Unternehmer Werkleistungen erbracht hat. Dies zwar offensichtlich ohne seine sozialversicherungsrechtlichen Melde- und Zahlungspflichten zu erfüllen, so dass von Schwarzarbeit auszugehen sei. Auch, wenn Schwarzarbeit verbotswidriges Handeln darstelle, schließe dies aber den Versicherungsschutz für den Kläger als Wie-Beschäftigten nicht aus. Dass darüber hinaus auch die typischen Merkmale einer abhängigen Beschäftigung erfüllt waren, sei nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht mehr fraglich. Der Kläger habe dem Direktionsrecht des Vorarbeiters hinsichtlich Ort, Art und Zeit der Arbeitsausführung unterstanden. Auch wenn er aufgrund seiner fachlichen Fähigkeiten und seinem Ausbildungsstand relativ selbständig und weitestgehend unbeaufsichtigt arbeiten konnte, stehe dies der Annahme einer Beschäftigung nicht entgegen. Eine fachliche Weisungsgebundenheit sei nicht erforderlich, so das Gericht.
Der Kläger arbeitete damit am Unfalltag als Wie-Beschäftigter, wenn auch in dem Glauben, für seinen Ausbildungsbetrieb tätig zu sein. Da er also unter dem Versicherungsschutz der BG stand, ist der Unfall als Arbeitsunfall anzuerkennen.
So zumindest das Ergebnis des Sozialgerichts Hannover. Da die BG Berufung eingelegt hat, ist die Entscheidung noch nicht rechtskräftig.
Das sagen wir dazu:
Das Rechtsschutzbüro Hannover hat es hier mit einer eher verworrenen und letztlich tragischen Geschichte zu tun.
Das Gericht liegt sicher richtig, wenn es davon ausgeht, dass der Vorarbeiter ohne Wissen des Geschäftsführers auf eigene Rechnung den Werkvertrag mit dem Bauherrn ausgehandelt hat und dabei diesem gegenüber den Anschein vermittelt hat, er sei für die Firma tätig.
Auch wenn nicht alles aufgeklärt werden konnte, liegt das Gericht wahrscheinlich auch mit seiner Vermutung richtig, dass der „Dritte im Bunde“ eingeweiht und mit der Aussicht, anteilig an dem Gewinn beteiligt zu werden, tätig geworden ist. Darauf kam es hier aber nicht an, da jedenfalls der Kläger am Werkvertrag nicht beteiligt war.
Der Kläger wird nicht wieder als Dachdecker arbeiten können
Der Unfall hatte für den jungen Mann erhebliche Folgen. Es grenzt an ein Wunder, dass er den Unfall überlebt hat und sich schon wieder relativ gut verständigen kann. Ihm geht es heute den Umständen entsprechend gut. Allerdings wird er aufgrund der bleibenden Unfallfolgen nie mehr in den Beruf des Dachdeckers zurückkehren können. Das ist besonders bitter für ihn, weil ihm die Tätigkeit als Dachdecker viel Freude bereitet hat. Er hatte zum Unfallzeitpunkt bereits seine Abschlussprüfung bestanden und stand unmittelbar vorm des Ausbildungsverhältnisses.
Lukas Klemenz, Rechtsschutzbüro Hannover, berichtet, dass der Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht ein Kraftakt für den Kläger war. Nach seiner eigenen Aussage folgten sieben Zeugenvernehmungen. Die ehemaligen Kollegen, mit denen er am Unfalltag zusammen auf der Baustelle gearbeitet hatte, waren keine Unterstützung. Sie haben größtenteils die Aussage verweigert oder behauptet, sie könnten sich an die Umstände des Auftrags nicht mehr erinnern.
Trotz sehr unterschiedlicher und widersprüchlicher Zeugenaussagen hat das Gericht letztlich zu Recht angenommen, dass es sich bei dem Auftrag zwar um Schwarzarbeit gehandelt hat, dass aber der Kläger als „Wie-Beschäftigter“ des Vorarbeiters tätig war und dass der Vorarbeiter den Auftrag unter der Hand mit dem Bauherrn abgeschlossen hatte, wovon der Kläger als Auszubildender nichts wissen konnte.
Das sagen wir dazu