Entschädigung bei zu langer Dauer eines Verfahrens vor dem Sozialgericht
In mehreren Fällen hatte sich das Bundessozialgericht (BSG) mit der Frage des Entschädigungsanspruchs bei zu langer Dauer von Sozialgerichtsverfahren zu befassen. Mehrere Kläger*innen, deren Prozesse aus unterschiedlichen Gründen zum Teil mehr als fünf, teilweise bis zu acht Jahren gedauert haben, hatten auf Entschädigung geklagt. Auch die DGB Rechtsschutz GmbH hat eine Klägerin vertreten.
Im Ergebnis hat das BSG die Verfahren an die Untergerichte zurück verwiesen. Eine Entschädigung setze nach § 198 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) eine unangemessene Verfahrensdauer voraus. Was darunter zu verstehen ist, sei, so das BSG, immer eine Einzelfallentscheidung.
Kritische Grenze bei 12-monatigem Verfahrensstillstand
Es ist jeweils konkret zu prüfen, welche Gründe zu der langen Laufzeit der Klage geführt haben.
Dabei kommt es nicht entscheidend auf die absolute Verfahrensdauer an. Wesentlich ist vielmehr die Zeit, in der die Streitsache „ohne Aktivität des Richters“ ruht.
Die kritische Grenze dieser „bearbeitungslosen Zeit“ sieht das BSG bei zwölf Monaten.
Bertold Brücher vom Gewerkschaftlichen Centrum für Revision und Europäisches Recht bei der DGB Rechtsschutz GmbH, der eine Klägerin vertreten hat, sieht erste Fortschritte bei der Klärung der Frage der überlangen Verfahrensdauer: „Es gibt nun eine gewisse Klarheit, und es gibt Prüfungsabschnitte, aus deren Abarbeitung sich im Einzelfall eher ableiten lässt, ob ein Überlänge vorliegen kann.“
Anmerkung der Redaktion zum Entschädigungsanspruch bei zu langer Verfahrensdauer:
Seit vielen Jahren ist die lange Verfahrensdauer insbesondere vor den Sozialgerichten ein Thema. Für die betroffenen Kläger*innen ist es mehr als nur ein Ärgernis, wenn ihre Klage, der ja in aller Regel schon ein Widerspruchsverfahren vor der Behörde vorgeschaltet war, viele Jahre dauert. Beispielsweise für einen Empfänger von Sozialleistungen ist es existenziell, wenn er um höhere Leistungen streiten muss. Oder für den Kläger, der um eine auskömmliche Erwerbsminderungsrente kämpft, um nicht nach langem Arbeitsleben in die Grundsicherung abzurutschen.
Entschädigung statt Verfahrensbeschleunigung
Um es vorweg zu sagen: Den einzelnen Richter*innen ist in den allerseltensten Fällen ein Vorwurf zu machen. Die personelle Ausstattung der Gerichte im Richterdienst, aber auch im Verwaltungsbereich, ist oftmals viel zu dürftig.
Der Gesetzgeber hat im Ansatz reagiert und mit § 198 GVG einen Entschädigungsanspruch für Betroffene eingeführt, die unter allzu langer Verfahrensdauer „zu leiden“ haben. Dies ist mehr symbolisch, denn der Regelbetrag von 1200 € pro Verzögerungsjahr wird dem Betroffenen vielfach auch nicht weiterhelfen. Und als Abschreckung für Richter und diejenigen, die für die Stellenzuweisung verantwortlich sind, ist es auch zu wenig.
Wann dauert ein Gerichtsverfahren unangemessen lange?
Weiteres Problem: Das Gesetz spricht nur von „unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens“ und lässt damit insbesondere die Betroffenen im Unklaren über die tatsächliche Voraussetzung.
Wer sich jetzt Klärung vom BSG erhofft hat, sieht nur Ansätze einer Lösung. Der Leitsatz, bei der Frage der unangemessenen Dauer müsse eine Einzelfallentscheidung getroffen werden, hilft nicht wirklich weiter. Er ist sicherlich auch dem hohen und unverzichtbaren Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit geschuldet. Denn: Niemand darf einem Richter vorschreiben, wie er zu arbeiten hat!
Immerhin, und dies ist der Fortschritt durch die jetzigen Entscheidungen: Das BSG sieht bei einer 12-monatigen „pauschalen Vorbereitungs- und Bedenkzeit“ eine Grenze, bei deren Überschreitung es kritisch wird.
Nicht die tatsächliche Verfahrensdauer ist entscheidend
Aber Achtung: gemeint ist nicht die gesamte Dauer des Verfahrens, sondern die Zeit, in der die Akte wirklich unbearbeitet liegt. Zeiten, in denen nach richterlicher Anordnung auf Schriftsätze von Verfahrensbeteiligten, Befundberichte von Ärzten oder Gutachten von Sachverständigen gewartet wird, sind hiermit nicht gemeint. Außerdem muss vor jeder Entschädigungsklage eine Verzögerungsrüge erhoben worden sein.
Fazit: Bei der Frage der allzu langen Verfahrensdauer ist nicht mehr als ein Anfang gemacht. Betroffene sollten sensibel die Länge ihres Prozesses beobachten.
Und die Länder sind gefordert, das Problem durch Schaffung von mehr Richterstellen zu beseitigen.
Darauf weist auch das BSG hin: “Bei den Richtern hat der Tag auch nur 24 Stunden“.
Michael Mey, Rechtsschutzsekretär und Onlineredakteur - Hagen
Die Presseinformation des Bundessozialgerichts können Sie hier nachlesen:
Rechtliche Grundlagen
§ 198 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG)
"Gerichtsverfassungsgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 9. Mai 1975 (BGBl. I S. 1077), das zuletzt durch Artikel 2 des Gesetzes vom 23. April 2014 (BGBl. I S. 410) geändert worden ist"-Stand: Neugefasst durch Bek. v. 9.5.1975 I 1077, Zuletzt geändert durch Art. 2 G v. 23.4.2014 I 410
§ 198 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG)
(1) Wer infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter einen Nachteil erleidet, wird angemessen entschädigt. Die Angemessenheit der Verfahrensdauer richtet sich nach den Umständen des Einzelfalles, insbesondere nach der Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens und nach dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter.
(2) Ein Nachteil, der nicht Vermögensnachteil ist, wird vermutet, wenn ein Gerichtsverfahren unangemessen lange gedauert hat. Hierfür kann Entschädigung nur beansprucht werden, soweit nicht nach den Umständen des Einzelfalles Wiedergutmachung auf andere Weise gemäß Absatz 4 ausreichend ist. Die Entschädigung gemäß Satz 2 beträgt 1 200 Euro für jedes Jahr der Verzögerung. Ist der Betrag gemäß Satz 3 nach den Umständen des Einzelfalles unbillig, kann das Gericht einen höheren oder niedrigeren Betrag festsetzen.
(3) Entschädigung erhält ein Verfahrensbeteiligter nur, wenn er bei dem mit der Sache befassten Gericht die Dauer des Verfahrens gerügt hat (Verzögerungsrüge). Die Verzögerungsrüge kann erst erhoben werden, wenn Anlass zur Besorgnis besteht, dass das Verfahren nicht in einer angemessenen Zeit abgeschlossen wird; eine Wiederholung der Verzögerungsrüge ist frühestens nach sechs Monaten möglich, außer wenn ausnahmsweise eine kürzere Frist geboten ist. Kommt es für die Verfahrensförderung auf Umstände an, die noch nicht in das Verfahren eingeführt worden sind, muss die Rüge hierauf hinweisen. Anderenfalls werden sie von dem Gericht, das über die Entschädigung zu entscheiden hat (Entschädigungsgericht), bei der Bestimmung der angemessenen Verfahrensdauer nicht berücksichtigt. Verzögert sich das Verfahren bei einem anderen Gericht weiter, bedarf es einer erneuten Verzögerungsrüge.
(4) Wiedergutmachung auf andere Weise ist insbesondere möglich durch die Feststellung des Entschädigungsgerichts, dass die Verfahrensdauer unangemessen war. Die Feststellung setzt keinen Antrag voraus. Sie kann in schwerwiegenden Fällen neben der Entschädigung ausgesprochen werden; ebenso kann sie ausgesprochen werden, wenn eine oder mehrere Voraussetzungen des Absatzes 3 nicht erfüllt sind.
(5) Eine Klage zur Durchsetzung eines Anspruchs nach Absatz 1 kann frühestens sechs Monate nach Erhebung der Verzögerungsrüge erhoben werden. Die Klage muss spätestens sechs Monate nach Eintritt der Rechtskraft der Entscheidung, die das Verfahren beendet, oder einer anderen Erledigung des Verfahrens erhoben werden. Bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Klage ist der Anspruch nicht übertragbar.
(6) Im Sinne dieser Vorschrift ist
1.
ein Gerichtsverfahren jedes Verfahren von der Einleitung bis zum rechtskräftigen Abschluss einschließlich eines Verfahrens auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes und zur Bewilligung von Prozess- oder Verfahrenskostenhilfe; ausgenommen ist das Insolvenzverfahren nach dessen Eröffnung; im eröffneten Insolvenzverfahren gilt die Herbeiführung einer Entscheidung als Gerichtsverfahren;
2.
ein Verfahrensbeteiligter jede Partei und jeder Beteiligte eines Gerichtsverfahrens mit Ausnahme der Verfassungsorgane, der Träger öffentlicher Verwaltung und sonstiger öffentlicher Stellen, soweit diese nicht in Wahrnehmung eines Selbstverwaltungsrechts an einem Verfahren beteiligt sind.