Das Bundessozialgericht (BSG) erweitert die bisher schon in seiner Rechtsprechung anerkannten engen Ausnahmefälle, in denen die ärztliche Feststellung oder die Meldung der Arbeitsunfähigkeit (AU) durch Umstände verhindert oder verzögert worden ist, die dem Verantwortungsbereich der Krankenkassen und nicht dem Versicherten zuzurechnen sind.
Es geht dabei um die Fälle, in denen ein Arzt der Bitte um Ausstellung einer AU-Bescheinigung nicht nachkommt, da er meint, dass eine Krankmeldung auch später noch folgenlos möglich ist.
Bisherige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts
Auch ein Senatswechsel kann erfreuliche Auswirkungen haben. Der zuvor für das Recht der Krankenversicherung zuständige 1. Senat fuhr immer eine harte Linie, wenn es um das Thema „Lücke in der AU-Bescheinigung“ ging.
Da waren zumeist auch die Begleitumstände unerheblich, etwa auch, ob der Arzt falsche Auskunft dazu gegeben hatte, wann die Verlängerung der Krankmeldung erfolgen muss.
Aber fangen wir beim Grundsatz der Rechtsprechung an: Danach muss der Versicherte dafür sorgen, dass ein Arzt die Arbeitsunfähigkeit rechtzeitig verlängert. Das war nach der 2013 geltenden Gesetzeslage spätestens am letzten Tag der zuvor bescheinigten Krankmeldung. Mittlerweile reicht es, wenn die ärztliche Feststellung spätestens am nächsten Werktag nach dem zuletzt bescheinigten Ende der Arbeitsunfähigkeit erfolgt. Sonst entsteht eine Unterbrechung von Krankengeld-Ansprüchen und der durchgehende umfassende Krankenversicherungsschutz bleibt nicht erhalten.
An diesem Grundsatz hält auch der 3. Senat des Bundessozialgerichts fest.
Ausnahmen von der Regel
Die Rechtsprechung wendet diese Regel strikt an. Sie erkennt Ausnahmen an, allerdings in engen Grenzen. Die Gerichte haben Krankengeld dann trotz Lücke in der Krankmeldung zugesprochen, wenn die ärztliche Feststellung oder die rechtzeitige Meldung der AU durch Umstände nicht erfolgt ist oder sich verzögert hat, die dem Verantwortungsbereich der Krankenkassen und nicht dem Verantwortungsbereich des Versicherten zuzurechnen sind.
Das gilt auch für Fälle, in denen der Vertragsarzt irrtümlich eine AU verneint hat. Ist der behandelnde Arzt aufgrund einer medizinischen Fehleinschätzung der Ansicht, der Versicherte sei nicht arbeitsunfähig, muss der Versicherte nicht so lange zu weiteren Ärzten gehen, bis ihm endlich jemand die AU bescheinigt.
Mitwirkungspflichten der Versicherten sind auf das Zumutbare beschränkt
Für die Ausnahmen stellt das BSG darauf ab, ob der Versicherte alles in seiner Macht Stehende tut, um rechtzeitig die ärztliche Feststellung seiner AU zu erhalten.
Was muss er dafür tun? Er muss seinen Arzt aufsuchen und ihm seine Beschwerden vortragen. Und wenn der Arzt ihn dann doch nicht krankschreibt, ohne dass der Versicherte etwas dafür kann? An diesem Punkt geht der 3. Senat weiter als der zuvor für das Krankengeld zuständige 1. Senat:
Es dürfe sich nicht zum Nachteil des Versicherten auswirken, wenn er seinerseits alles in seiner Macht Stehende getan hat, um seine Ansprüche zu wahren, daran aber durch eine von der Krankenkasse zu vertretende Fehlentscheidung gehindert wurde.
Ein gutes und lebensnahes Ergebnis, das rechtlich aber gar nicht so leicht zu begründen ist. Denn hier muss der Dreh dahingehend gefunden werden, die Fehleinschätzung des Arztes der Verantwortung der Krankenkasse zuzuordnen.
3. Senat entwickelt die bisherige höchstrichterliche Rechtsprechung weiter
Schon zuvor fiel es in den Verantwortungsbereich der Krankenkasse, wenn ein (Vertrags-)Arzt objektiv medizinisch falsch lag und deshalb Arbeitsunfähigkeit verneinte.
Auf diese Fälle dürfe die Rechtsprechung aber nicht beschränkt bleiben, so das BSG nun:
„Hat ein Versicherter - wie hier die Klägerin - entsprechend den gesetzlichen Vorgaben innerhalb des zeitlichen Rahmens einer zuvor attestierten AU einen Vertragsarzt zu dem Zweck aufgesucht, für die Weitergewährung von Krg eine ärztliche AU-Folgebescheinigung zu erlangen und hat dazu ein Arzt-Patienten-Kontakt stattgefunden, unterbleibt aber gleichwohl die begehrte Erteilung einer solchen Bescheinigung, kann es - schon unter dem Blickwinkel des allgemeinen Gleichheitssatzes - nicht entscheidend darauf ankommen, aus welchen Gründen der Vertragsarzt dem Versicherten die erbetene Bescheinigung gleichwohl zu Unrecht nicht erteilt hat.“
Es ist also egal, ob der Arzt die Krankmeldung deshalb nicht ausstellt, weil er meint, es bestünde keine Arbeitsunfähigkeit, oder weil er meint, eine Bescheinigung sei zu dem Zeitpunkt nicht notwendig. Entscheidend ist, dass die AU-Bescheinigung fälschlicherweise unterbleibt.
Rückwirkender Anspruch auf Krankengeld, wenn der Arzt AU zu Unrecht nicht bescheinigt
Ausnahmefälle sind nach der BSG-Rechtsprechung anzuerkennen, wenn
- der Versicherte alles in seiner Macht Stehende getan hat, um seine Ansprüche zu wahren,
- daran aber trotz Arzt-Patienten-Kontakts durch eine Fehlentscheidung des Arztes, eine AU-Bescheinigung nicht auszustellen, gehindert worden ist und
- das Vorliegen von AU nach der Art und Schwere der im Raum stehenden Erkrankung und den weiteren erkennbaren Umständen keinem ernsthaften Zweifel unterliegen kann.
In solchen Fällen ist unabhängig von den Gründen für das Zustandekommen der Fehlentscheidung diese der Krankenkasse anzulasten und nicht dem Versicherten.
Unter diesen engen Voraussetzungen kann ein anderer ärztlicher Gutachter die Unrichtigkeit der ersten ärztlichen Beurteilung nachweisen. Gelingt dieser Nachweis kann der Versicherte ausnahmsweise auch rückwirkend Krankengeld beanspruchen.
Ein Tag fehlte!
Im Fall, den das BSG zu entscheiden hatte, ging es um Krankengeld für die Zeit von Januar bis April 2013.
Die Klägerin hatte sich am 4. Januar bei einer der Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie vorgestellt, die Arbeitsunfähigkeit attestierte. Die Überweisung zur Fachärztin hatte die Klägerin schon 2012 bekommen.
Zuvor war AU bescheinigt bis zum 3. Januar. An diesem Tag hatte sich die Klägerin nochmals bei ihrem Hausarzt in der Sprechstunde vorgestellt. Eine AU-Bescheinigung füllte dieser nicht aus.
Die Krankenkasse lehnte daraufhin Ansprüche auf Krankengeld ab dem 4. Januar ab. Am 3. Januar habe eine Folgebescheinigung ausgestellt werden müssen, so dass die Klägerin nicht durchgehend arbeitsunfähig gewesen sei.
Ärzte gaben falsche Auskunft
Das Sozialgericht hat den Sachverhalt ermittelt. Dabei ergab sich dieses Bild:
Der Klägerin war klar, dass die ärztliche Feststellung von Arbeitsunfähigkeit wichtig ist. Deshalb hatte sie am 3. Januar noch ihren Hausarzt aufgesucht und auch auf eine Krankmeldung angesprochen. Der Arzt erklärte, es genüge, wenn die Fachärztin am nächsten Tag eine Bescheinigung ausstelle.
Die Klägerin hatte auch noch sicherheitshalber bei der Arzthelferin der Fachärztin nachgefragt, als sie dort am nächsten Tag die Krankschreibung erhielt. Diese bestätigte, dass alles seine Richtigkeit habe, wobei sie auf Bitte der Klägerin noch in der Hausarztpraxis nachgefragt hatte.
Schon das Sozialgericht war aufgrund dieses Sachverhalts zu diesem folgerichtigen Ergebnis gekommen: Die Klägerin hatte alles in ihrer Macht Stehende getan, um die Voraussetzungen für ihren Anspruch auf Krankengeld aufrechtzuerhalten.
LSG: Unzutreffende oder unterbliebener ärztliche Beratung sei unerheblich
Beim Landessozialgericht musste die Klägerin zunächst eine Schlappe einstecken. Die Krankenkasse obsiegte mit ihrer Berufung. Es bliebe auch dann bei der Pflicht des Versicherten die Arbeitsunfähigkeit rechtzeitigen feststellen zu lassen, wenn der behandelnde Arzt den Versicherten unzutreffend oder gar nicht rechtlich beraten habe.
Das LSG berief sich dafür auf die (bisherige) Rechtsprechung des Bundessozialgerichts. Es wäre also ganz und gar nicht verwunderlich gewesen, wenn die Klägerin mit ihrer Revision beim BSG gescheitert wäre. Zum Glück ist die Sache anders ausgegangen.
Das BSG gab der Revision statt und sprach der Klägerin Krankengeld zu. Aufgrund der Äußerung des Hausarztes und des weiteren Geschehensablaufs durfte sie auch bei objektiver Betrachtung zu Recht davon überzeugt sein, alles Erforderliche für die Weiterzahlung des Krankengelds unternommen zu haben.
Ein Tipp zum Schluss
Wenn der Arzt einen Fehler bei der Krankmeldung gemacht hat, ist Eile für den Versicherten geboten. Einen Anspruch auf rückwirkendes Krankengeld kommt nämlich nur in Betracht, wenn der Versicherte seine Rechte bei der Krankenkasse innerhalb einer Woche geltend macht, nachdem er von dem Fehler erfahren hat.
Das vollständige Urteil können Sie auf der Seite des Bundessozialgerichts nachlesen
Weitere Informationen zu diesem Thema finden Sie hier:
Vorsicht bei Unterbrechung von Krankschreibung
Gesetz zur Stärkung der Versorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung in Kraft getreten
Krankengeld: BSG bleibt hart bei Nachweispflicht fortlaufender Arbeitsunfähigkeit
Das sagen wir dazu:
Der 3. Senat formuliert es recht zurückhaltend und spricht von einer Erweiterung der Grundsätze, die es zu den Ausnahmefällen schon gibt. Dennoch kann das Urteil als Kehrtwende in der Rechtsprechung gesehen werden.
Es wird auch an einer wichtigen Stelle dem 1. Senat widersprochen, bei der es um die Richtlinien zur Bescheinigung von Arbeitsunfähigkeit geht:
Die AU-Richtlinie ermöglicht(e) auch die nachträgliche AU-Feststellung. § 6 der Richtlinien in der alten Fassung sah für den Fall der Bescheinigung der AU nach Ablauf der Entgeltfortzahlung vor, dass die Bescheinigung für die Zahlung von Krankengeld in der Regel nicht für einen mehr als sieben Tage zurückliegenden Zeitraum erfolgen soll. In der seit März 2016 geltend Fassung ist eine rückwirkende Attestierung als Ausnahme und maximal für 3 Tage möglich.
Anders als der 1. Senat ist der erkennende Senat nun der Auffassung die Regelung sei „geeignet bei den vertragsärztlichen Adressaten zumindest die Fehlvorstellung darüber auszulösen, dass auch eine nicht sogleich zeitgerecht ausgestellte Folge-AU-Bescheinigung zu weitreichenden negativen Konsequenzen in Bezug auf die Krg-Ansprüche des Versicherten führt.“
Ein wichtiger Schritt in der Rechtsprechung zum Krankengeld, denn das BSG erkennt und berücksichtigt dieses häufige Problem:
Viele Ärzte kennen zwar die Möglichkeit einer rückwirkenden Bescheinigung von Arbeitsunfähigkeit, sind sich aber nicht bewusst, dass das rückwirkende Attestieren der AU (sogar das erlaubte) den Verlust langzeitiger Ansprüche auf Krankengeld bewirken kann.
Krankenkassen mitverantwortlich für AU-Richtlinien
An dieser Stelle bekommen auch die Krankenkassen „ihr Fett weg“. Denn das BSG verweist darauf, dass diese für Inhalt der AU-Richtlinien mitverantwortlich sind. Damit haben sie auch dafür einzustehen, wenn die Ärzte einer Fehlvorstellung darüber unterliegen, welche Folgen es hat, wenn sie rückwirkend AU attestieren.
Wenn sich die Krankenkassen selbst bei einer solchen Sachlage darauf berufen könnten, die Fehleinschätzung des Arztes sei dennoch dem Versicherten anzulasten, mute das treuwidrig an.
Denn, so das BSG weiter, hätten es die Krankenkassen seit Jahren mit in der Hand, durch die AU-Richtlinien hervorgerufene Missverständnisse durch Änderungen der Regelungen und Formulierungen zu beseitigen.
Die Versicherten auf ein Regressverfahren gegen den Arzt zu verweisen, sei nicht hinnehmbar!
Gesetzeszweck: Vermeidung von Missbrauch und praktischen Schwierigkeiten
Das BSG kommt zu seinem guten Ergebnis, indem es sich an den Sinn und Zweck der gesetzlichen Normen erinnert. Denn dieser ist die Vermeidung von Missbrauch und praktischen Schwierigkeiten beim Krankengeld, verursacht durch die nachträgliche Behauptung einer Arbeitsunfähigkeit und rückwirkender Bescheinigung einer solchen.
Hier ist in der Rechtsprechung zum Krankengeld endlich ein soziales Gewissen erkennbar. Es erschiene unverhältnismäßig, einem Versicherten, der alle sonstigen Anspruchsvoraussetzungen erfüllt, die Krankengeld-Ansprüche von bis zu 18 Monaten sogar dann uneingeschränkt zu versagen, wenn nur eine Lücke von einem Tag in der Feststellung von Arbeitsunfähigkeit besteht.
Das BSG nennt ein Beispiel, welches deutlich aufzeigt, wie weit Fälle wie der zu entscheidende von den Missbrauchsfällen entfernt sind:
Ein Versicherter, der das Ende der bescheinigten AU akzeptiert und über Monate hinweg Leistungen wegen Arbeitslosigkeit bezieht, die er bei AU nicht hätte erhalten dürfen, könne nicht mehr mit der nachträglichen Behauptung gehört werden, er sei in der gesamten Zeit zu Unrecht als arbeitslos statt richtigerweise als arbeitsunfähig behandelt worden. Es liegt auf der Hand, dass das etwas völlig anders ist, als der Fall bei dem sich jemand um eine rechtzeitige Feststellung seiner Arbeitsunfähigkeit bemüht und nur aufgrund des falschen Umgangs der Ärzte mit Krankmeldungen eine Lücke im Nachweis hat.
Deshalb das wichtige und richtige Fazit der Richter:
„Bei ansonsten zweifelsfrei zu bejahenden Anspruchsvoraussetzungen des Krg-Anspruchs ist eine fehlerhaft unterbliebene ärztliche AU-Feststellung - gleich aus welcher Vorstellung eines Vertragsarztes heraus, insbesondere bei durch § 6 der AU-Richtlinien mit hervorgerufenen Fehlvorstellungen - vielmehr den Krankenkassen zuzurechnen und nicht den betroffenen Versicherten.“
Rechtliche Grundlagen
Auszug aus der Entscheidung des Bundessozialgerichts
Dem Krg-Anspruch Versicherter steht eine nachträglich erfolgte ärztliche AU-Feststellung nicht entgegen, wenn
1. der Versicherte alles in seiner Macht Stehende und ihm Zumutbare getan hat, um seine Ansprüche zu wahren, indem er einen zur Diagnostik und Behandlung befugten Arzt persönlich aufgesucht und ihm seine Beschwerden geschildert hat, um
(a) die ärztliche Feststellung der AU als Voraussetzung des Anspruchs auf Krg zu erreichen, und
(b) dies rechtzeitig innerhalb der anspruchsbegründenden bzw. -erhaltenden zeitlichen Grenzen für den Krg-Anspruch erfolgt ist,
2. er an der Wahrung der Krg-Ansprüche durch eine (auch nichtmedizinische) Fehlentscheidung des Vertragsarztes gehindert wurde (z.B. eine irrtümlich nicht erstellte AU-Bescheinigung), und
3. er - zusätzlich - seine Rechte bei der Krankenkasse unverzüglich, spätestens innerhalb der zeitlichen Grenzen des § 49 Abs. 1 Nr. 5 SGB V, nach Erlangung der Kenntnis von dem Fehler geltend macht.
Das sagen wir dazu