Ein sehbehinderter Beamter mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 100 war bis zum Jahr 2008 vollbeschäftigt. In jenem Jahr gründete er ein eigenes Unternehmen, das ein Internetradio betreibt, Künstler vermittelt und managt. Bis zum Jahr 2013 reduzierte er schrittweise seine Arbeitszeit auf 50%. Für die Arbeit im eigenen Unternehmen beantragte er beim Versorgungsamt Kostenübernahme für eine selbst organisierte Arbeitsassistenz. Das wurde wegen fehlender Notwendigkeit abgelehnt. Eine Förderung setze voraus, dass die selbständige Tätigkeit als Haupterwerbsquelle den Lebensunterhalt des Existenzgründers auf Dauer sichere. Der Beamte hingegen stünde seit dem Jahre 2000 in einem Dienstverhältnis. Dadurch sei seine Teilhabe am Arbeitsleben seit Jahren auf Dauer gesichert.
Widerspruch und Klage blieben erfolglos. Das Oberverwaltungsgericht (OVG) hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen.
Das OVG wies darauf hin, dass primärer Sinn und Zweck des SGB IX die Sicherung und Förderung der Teilhabe schwerbehinderter Menschen am Arbeitsleben auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt sei. Zugleich solle durch die Einführung umfassender Maßnahmen die Chancengleichheit schwerbehinderter Menschen im Arbeitsleben erreicht werden. Diese Voraussetzungen lägen beim Kläger nicht vor. Der Kläger habe teil am Arbeitsleben auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Er sei durch seine Tätigkeit als Beamter bereits hinreichend in das Arbeitsleben auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt eingegliedert.
Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) hat das Urteil aufgehoben.
Rechtlicher Hintergrund
Schwerbehinderte Menschen haben für die begleitende Hilfe im Arbeitsleben Anspruch auf Übernahme der Kosten einer notwendigen Arbeitsassistenz. Das ist in § 102 Absatz 4 Sozialgesetzbuch 9 (SGB IX) geregelt. Arbeitsassistenz ist die regelmäßige Unterstützung eines schwerbehinderten Arbeitnehmers durch einen Assistenten, der ihm die Ausführung der Arbeit überhaupt möglich macht. Das geschieht in Deutschland nach dem sogenannten „Arbeitgebermodell“: der schwerbehinderte Mensch beantragt beim Integrationsamt die Übernahme der Kosten für eine solche Assistenz. Das Amt muss ihm diese Kosten bewilligen, wenn die Arbeitsassistenz notwendig ist. Streitig ist im vorliegenden Fall, was unter „notwendig“ zu verstehen ist.
Wann ist eine Arbeitsassistenz notwendig?
Es gibt im Gesetz hierfür keine Definition. Die Gerichte müssen daher im Einzelfall im Wege der Auslegung ermitteln, ob und in welchem Umfang der schwerbehinderte Mensch Anspruch auf Kostenübernahme für eine Arbeitsassistenz hat. Für das Versorgungsamt war eine Arbeitsassistent deshalb nicht notwendig, weil der Kläger ja bereits am Arbeitsleben teilnimmt und es einer Förderung deshalb gar nicht bedarf. Diese Auffassung hat das OVG unterstützt.
Indessen verkennt diese Rechtsauffassung den Teilhabebegriff. Das SGB IX soll die Teilhabe von behinderten Menschen und von Behinderung bedrohte Menschen am Leben in der Gesellschaft sichern. Die Bundesrepublik Deutschland geht dabei von den von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) definierten Behinderungsbegriff aus. Danach ist ein Mensch behindert, wenn gesellschaftliche Barrieren ihn aus gesundheitlichen Gründen an der Teilhabe hindern oder behindern. Zur gesellschaftlichen Teilhabe gehört auch die Teilhabe am Arbeitsleben. Diese bedeutet aber nicht nur, dass der Behinderte einen Arbeitsplatz innehat. Wie jeder nichtbehinderte Mensch hat er grundsätzlich ein Recht darauf, seinen Arbeitsplatz frei zu wählen oder zu entscheiden, ein eigenes Unternehmen zu gründen. Für die Frage, ob eine Arbeitsassistenz notwendig ist, kann also keine Rolle spielen, dass der schwerbehinderte Mensch bereits einen Arbeitsplatz hat. Entscheidend ist vielmehr, ob er eine gesellschaftliche Barriere, die aufgrund seiner gesundheitlichen Beeinträchtigung besteht, durch die Arbeitsassistenz überwinden kann. Kann er eine angestrebte Tätigkeit nur deshalb nicht aufnehmen, weil ihn eine chronische Erkrankung daran hinter, und kann diese Barriere durch Arbeitsassistenz beseitigt werden, hat der behinderte Mensch Anspruch auf Übernahme der Kosten für diese Assistenz.
Die Entscheidung des BVerwG
Das BVerwG hat die Auffassung vertreten, dass die Notwendigkeit der Arbeitsassistenz nicht deshalb zu verneinen sei, weil der schwerbehinderte Mensch bereits einer anderen Teilzeitbeschäftigung nachgehe. Zwar käme dem Abbau der Arbeitslosigkeit schwerbehinderter Menschen eine wesentliche Bedeutung zu. Drohende oder bereits eingetretene Arbeitslosigkeit des schwerbehinderten Menschen stellten aber keine notwendigen Bedingungen für die begehrte Kostenübernahme dar. Der Anspruch auf Übernahme der Kosten einer notwendigen Arbeitsassistenz diene auch der Chancengleichheit schwerbehinderter Menschen im Arbeitsleben. Deshalb sei es grundsätzlich ihre Sache zu entscheiden, welchem Beruf sie nachgingen, ob sie diesem ihre Arbeitskraft vollumfänglich widmeten oder ob sie diese anteilig für mehrere Erwerbstätigkeiten einsetzten. Ebenso wenig dürfe es sich zum Nachteil schwerbehinderter Menschen auswirken, wenn sie sich entschieden, den Umfang einer ausgeübten Beschäftigung zu reduzieren oder den Arbeitsplatz bzw. Beruf zu wechseln und für die neue Tätigkeit eine Arbeitsassistenz zu beanspruchen.