Behindertenbegriff im Wandel
Der Behindertenbegriff ist in den letzten Jahren stark im Wandel begriffen. Wurde Behinderung bis in die neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts als eine Einschränkung der Eingliederungsfähigkeit eines Menschen begriffen, stehen nunmehr die Beseitigung von Barrieren und der Schutz gegen Benachteiligung im Vordergrund. Behinderung wird nicht mehr als Eigenschaftspotenzial aufgefasst, sondern als soziale Beziehung. Sie entsteht aus definierten Aktivitäten von interagierenden Personen in sozialen Situationen. Dem trägt insbesondere auch die UN-Behindertenrechtskonvention vom 13.12.2006 (UN-BRK) Rechnung. Danach sind behinderte Menschen diejenigen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können.
Im deutschen Recht galt bislang eine andere Definition: Zwar ist Behinderung auch nach dieser Definition eine Einschränkung der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft, die jedoch auf eine Einschränkung der körperlichen Funktion, geistigen Fähigkeit oder seelischen Gesundheit zurückzuführen ist. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) liegt eine Behinderung demnach nur vor, wenn es eine medizinisch festgestellte „Funktionsbeeinträchtigung“ gibt, die ihrerseits Auswirkungen auf die gesellschaftliche Teilhabe hat. Nach Stellung eines Antrages auf Feststellung einer Behinderung wurden ärztliche Befundberichte eingeholt und anhand der dort beschriebenen funktionellen Einschränkungen mithilfe einer Liste der Grad der Behinderung (GdB) festgestellt. Lange Zeit waren die sogenannten „Anhaltspunkte“ zugrunde zu legen. Hierbei handelte es sich um eine Liste, die von einem Sachverständigenbeirat beim Bundesministerium für Arbeit- und Soziales (BMAS) erstellt wurde, der nur aus Ärzten besteht. Nachdem eigentlich immer schon klar war, dass dieser Praxis einige rechtsstaatliche Bedenken entgegenstehen, wurden gesetzliche Grundlagen für eine Verordnung geschaffen, die als Anlage „Versorgungsmedizinische Grundsätze“ (VmG) hat, die wiederum im Wesentlichen den „Anhaltspunkten“ entsprechen.
Anhand der soeben beschriebenen Liste ist die Behinderung und deren Grad nach jahrzehntelanger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) in drei Stufen festzustellen: in einem ersten Schritt werden die einzelnen nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen im Sinne von regelwidrigen (von der Norm abweichenden) Zuständen und die sich daraus ableitenden Teilhabebeeinträchtigungen festgestellt. In einem zweiten Schritt sind diese den in den VmG genannten Funktionssystemen zuzuordnen und mit einem Einzel-GdB zu bewerten. In einem dritten Schritt ist dann - in der Regel ausgehend von der Beeinträchtigung mit dem höchsten Einzel-GdB in einer Gesamtschau unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen der einzelnen Beeinträchtigungen der Gesamt-GdB zu bilden. Dabei können die Auswirkungen der einzelnen Beeinträchtigungen ineinander aufgehen (sich decken), sich überschneiden, sich verstärken oder beziehungslos nebeneinander stehen.
Fehlende „Funktionsbeeinträchtigung“ als Voraussetzung für den Ausgleich von Nachteilen?
Dem Konzept der „Funktionsbeeinträchtigungen“ wurde indessen auch bei den deutschen Obergerichten nicht einheitlich gefolgt.
Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat in einer richtungsweisenden Entscheidung einem symptomlos HIV-Infizierten die Eigenschaft eines Behinderten i.S.d. § 1 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz
(AGG) zuerkannt. Völlig zutreffend hat das BAG erkannt, dass aufgrund von gesellschaftlichen Kontextfaktoren die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft durch eine Erkrankung erheblich beeinträchtigt sein kann: Die gesellschaftliche Teilhabe auch von symptomlos HIV-Infizierten werde nach wie vor typischerweise durch zahlreiche Stigmatisierungen und soziales Vermeidungsverhalten beeinträchtigt. Nach dem Willen des Gesetzgebers entspricht der Begriff der Behinderung iSd. § 1 AGG den gesetzlichen Definitionen in § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX (BR-Drucks. 329/06 S. 31).
Die bisherige Rechtsprechung im Behindertenrecht ging davon aus, dass es Menschengruppen gibt, denen bestimmte Nachteilsausgleiche zugewiesen werden müssen, damit die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft erleichtert wird.
Zum 30.12.2016 trat Artikel 2 des Gesetzes zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz - BTHG) vom 23. Dezember 2016 in als eine Art Vorschaltgesetz in Kraft und vertauscht etwa in verschiedenen Gesetzen den Begriff „Integration“ durch „Inklusion“. Das BTHG wird in vier Stufen zwischen 2017 und 2023 das Recht der Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen nach dem SGB IX erheblich ändern. So wurde im SGB IX der Begriff „Integrationsvereinbarung“ durch den Begriff „Inklusionsvereinbarung“ ersetzt. Inklusion bedeutet als Gegenbegriff zu Exklusion die Einbeziehung von Menschen in die Gesellschaft. Soziale Inklusion heißt somit zunächst die Akzeptanz jedes Menschen in seiner Individualität und sodann die Bereitstellung von Möglichkeiten zur möglichst vollständigen Teilhabe.
Hieraus haben sich normative Konzepte entwickelt. Das Konzept der „Integration“ hat noch Menschen gemäß ihren Unterschieden in Gruppen unterteilt. Bei der Inklusion wird die Vielfalt aller Menschen als Normalität angesehen. Somit stellt diese Gesetzesänderung nicht lediglich eine redaktionelle Korrektur dann, sondern sie kennzeichnet vielmehr einen Paradigmenwechsel.
Die Änderung des Behindertenbegriffs im Gesetz
Das Bundesteilhabegesetz ändert zum 01.01.2018 die gesetzliche Definition von „Behinderung“ in § 2 Absatz 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch IX (SGB IX) heißt es dann: „Menschen mit Behinderungen sind Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können“.
Die Rechtsprechung wird sich also von der ersten Instanz an mit der Neuorientierung des Gesetzgebers im Behindertenrecht auseinandersetzen müssen. Auf jeden Fall wird sie sich nicht allein mehr auf aus Befundberichten ergebenen „Funktionsbeeinträchtigungen“ beziehen können, denen nach der Anlage zu § 2 Versorgungsmedizinverordnung irgendwelche Grade zugeordnet sind.
Zu prüfen ist vielmehr, inwieweit im gesellschaftlichen Kontext die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft eingeschränkt ist. Dazu ist mehr erforderlich als eine Beurteilung von medizinischen Befunden und deren Auswirkung auf die Teilhabe. Wichtige Experten in diesem Zusammenhang sind nicht nur Ärzte, sondern auch Psychologen, Sozialwissenschaftler und -arbeiter und sicherlich auch Angehörige von Betroffenengruppen, etwa die Vertrauenspersonen schwerbehinderter Menschen in den Betrieben.