Wir waren dabei
Arbeitszeit – Zwischen Theorie und Wirklichkeit
Der Arbeitszeitschutz war das Thema des 3. Forums auf dem diesjährigen Hans-Böckler-Forum vom 2. - 3. März 2017 in Berlin. Dabei ging es insbesondere um die aktuelle Frage, ob der Arbeitnehmerschutz durch die bestehenden Regelungen zur Arbeitszeit noch gewährleistet ist, ob hier Änderungen erforderlich sind – oder ob umgekehrt die Notwendigkeit einer Lockerung des Arbeitszeitgesetzes besteht.
Der Arbeitszeitschutz war das Thema des 3. Forums auf dem diesjährigen Hans-Böckler-Forum vom 2. - 3. März 2017 in Berlin. Dabei ging es insbesondere um die aktuelle Frage, ob der Arbeitnehmerschutz durch die bestehenden Regelungen zur Arbeitszeit noch gewährleistet ist, ob hier Änderungen erforderlich sind – oder ob umgekehrt die Notwendigkeit einer Lockerung des Arbeitszeitgesetzes besteht.
Von Arbeitgebern und Arbeitgeberverbänden wird in letzter Zeit wieder die Forderung erhoben, die gesetzlichen Regelungen zur Arbeitszeit zu flexibilisieren, weil sie angeblich nicht mehr zeitgemäß seien und der digitalisierten Arbeitswelt nicht mehr gerecht würden.
Das Arbeitszeitgesetz - zu starr oder zu flexibel ?
Demgegenüber besteht aus Sicht von Gewerkschaften und Betriebsräten die nachvollziehbare Sorge, dass jede Flexibilisierung des Arbeitszeitrechtes zu einer weiteren Entgrenzung der Arbeit, zu weiteren psychischen und körperlichen Belastungen und insgesamt zu einer Verringerung des Arbeitnehmerschutzes führen wird.
Das Bundesarbeitsministerium hat sich im vergangenen Jahr im Rahmen eines gesellschaftlichen Dialogs über die Arbeitswelt der Zukunft auch mit dieser Frage sehr intensiv beschäftigt. Ergebnis dieses Dialogprozesses ist das „Weißbuch Arbeiten 4.0“, das im November 2016 veröffentlicht wurde.
Darin wird ein „Wahlarbeitsgesetz“ angeregt: Beschäftigte sollen mehr Wahloptionen für Arbeitszeit und -ort erhalten. Im Gegenzug sollen erweiterte Möglichkeiten eröffnet werden, tarifvertraglich oder betrieblich von bestimmten Regelungen des Arbeitszeitgesetzes abzuweichen. Erprobt werden soll eine solche gesetzliche Regelung nach dem Vorschlag des Weißbuchs im Rahmen betrieblicher „Experimentierräume“.
Die tatsächliche Belastung der Beschäftigten
Zum Einstieg in das Thema hat Fr. Dr. Beermann von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) die Ergebnisse des aktuellen Arbeitszeitreports 2016 vorgestellt.
Ziel dieser Erhebung ist der Aufbau einer kontinuierlichen Berichterstattung über die Realität der Arbeitszeiten und der Rolle der Arbeitszeitgestaltung für die Gesundheit der Beschäftigten. Dazu wurden seit Mai 2015 insgesamt 20.000 Beschäftigte ausführlich befragt.
Im Durchschnitt fast fünf Überstunden pro Woche
Ein Ergebnis dieser Befragung ist die deutliche Diskrepanz zwischen vertraglichen und tatsächlichen Arbeitszeiten. Tatsächlich arbeiten Vollzeitbeschäftigte im Durchschnitt 43,5 h / Woche und damit fast fünf Stunden länger als vertraglich vereinbart.
Dabei wurde eine eindeutige Zunahme der gesundheitlichen Beschwerden, etwa Rückenschmerzen, Schlafstörungen und allgemeine Niedergeschlagenheit, im Zusammenhang mit der Anzahl der Überstunden festgestellt.
Die durchschnittlich gewünschte Arbeitszeit liegt nach dieser Befragung bei 36 Stunden in der Woche.
Belastung durch kurzfristige Änderungen der Arbeitszeiten
Für die Belastung der Beschäftigten spielt neben der reinen Arbeitszeit auch deren Planbarkeit und Vorhersehbarkeit eine Rolle sowie die Möglichkeit, die Arbeitszeit arbeitnehmerseitig flexibel gestalten zu können.
Dabei leiden 14 % der Beschäftigten unter häufigen Arbeitszeit-Änderungen, wobei davon jede/r zweite erst am Vortag oder sogar am gleichen Tag über die geänderte Diensteinteilung unterrichtet wird.
Von den befragten Beschäftigten gaben 22 % an, dass sie ständig erreichbar sein müssen, 17 % haben in gewissen Zeiträumen erreichbar zu sein. Auch hier hat die Studie einen klaren Zusammenhang zwischen der ständigen beruflichen Erreichbarkeit und der gesundheitlichen Belastung festgestellt.
„Das Arbeitszeitgesetz ist zeitgemäß“
Im Anschluss hat Herr Dr. Andreas Hoff als Fachmann für Arbeitszeitsysteme die Möglichkeiten des Arbeitszeitgesetzes für die Praxis durchleuchtet. Er sieht die bestehenden gesetzlichen Regelungen insbesondere auch für die betrieblichen Interessen der Arbeitgeber als zeitgemäß an.
Dabei sei bereits heute die faktische Höchstgrenze für die tägliche Arbeitszeit nicht der 8-Stunden-, sondern der 10-Stunden Tag. Dabei muss man sich bewusst machen, dass sich bei einem 10-stündigen Arbeitstag die „arbeitsgebundene“ Zeit inkl. einer ¾ h Pause und Wegezeiten von jeweils 30 min bereits auf fast 12 Stunden beläuft.
Herr Dr. Hoff hat darauf hingewiesen, dass die gesetzlich vorgeschriebene 11-stündige Ruhezeit nicht nur unter dem Gesichtspunkt des Gesundheitsschutzes das absolute Minimum darstellt, sondern auch aus Gründen der Arbeitssicherheit und auch der Arbeitsproduktivität.
Die Realität sieht anders aus ...
Die Realität der Arbeitszeiten im Gesundheitswesen hat dann Carsten Becker, Mitglied des Personalrates der Charité in Berlin dargestellt.
Die gesetzlich vorgesehenen Ruhezeiten von elf Stunden sind nach seinen Schilderungen im Krankenhausbetrieb mehr oder weniger reine Theorie. Aber auch die sonstigen Vorgaben des Arbeitszeitgesetzes würden oft nicht nur ausgeschöpft, sondern überschritten.
Die Kontrollmöglichkeiten der Personalräte und Betriebsräte scheitern oftmals bereits rein faktisch daran, dass Dienstpläne nicht oder nicht rechtzeitig vorgelegt werden. Selbst wenn Dienstpläne vorliegen, ist es in der Praxis kaum möglich, die Einhaltung der Höchstarbeitszeiten zu überwachen, da dabei der komplette Ausgleichszeitraum von bis zu 52 Wochen überprüft werden müsste.
Tarifliche Arbeitszeiten von bis zu 60 Stunden
In Tarifverträgen für Ärzte sind beispielsweise Arbeitszeiten von bis zu 60 Stunden in der Woche vereinbart, bei Ausgleichszeiträumen von bis zu einem Jahr. Auf die Frage, warum gerade Ärzt*innen diesen Zustand weitgehend akzeptieren, kann man nur Vermutungen anstellen:
So liegt das zum Teil sicherlich an der eigenen intrinsischen Motivation, aber auch an dem Druck, zur Erreichung fachärztlicher Qualifikation und entsprechender beruflicher Karriere die bestehenden Arbeitsbedingungen mitzutragen.
Grund dürften aber auch die tarifvertraglichen Regelungen der Berufsverbände für Ärzt*innen sein, bei denen offensichtlich die finanzielle Vergütung eine größere Rolle spielt als zumutbare und gesundheitlich vertretbare Arbeitszeiten.
Das führt aus Sicht von Carsten Becker zu einer „Flucht in die Teilzeit“ derjenigen, die mit dieser zeitlichen Arbeitsbelastung nicht leben können oder wollen. Er sieht als Fazit das Arbeitszeitgesetz zumindest für den Gesundheits- /Krankenhausbereich bereits heute als zu flexibel an.
Es geht auch um Grundrechte !
Dr. Hinrich Vogelsang (Richter am BAG) hat die Wirkung der Grundrechte im Arbeitszeitrecht dargestellt. Dabei konkurriert in der Regel die Berufsfreiheit gemäß Art.12 GG (als unternehmerische Freiheit des Arbeitgebers) mit dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 GG.
Als aktuelle Probleme aus rechtlicher und rechtspolitischer Sicht beschreibt Dr. Vogelsang hier die Gefahr der „Selbstausbeutung“ bei bestimmten flexiblen Arbeitszeitmodellen, die Kurzunterbrechungen der Ruhezeiten (durch Anrufe, e-mails) und die weiter fortschreitende Ausweitung der Nachtarbeit.
Keine Experimente ?
Abschließend stellte Astrid Schmidt (Verdi Bundesverwaltung) eine gewerkschaftliche Sicht auf das Thema dar:
Die Verdichtung und Entgrenzung der Arbeit sowie die zunehmende Übertragung der Verantwortung für das Arbeitsergebnis auf Arbeitnehmer*innen (z.B. durch Zielvereinbarungen) führen dazu, dass sich Beschäftigte verstärkt unter Zeitdruck und gehetzt fühlen.
Die Chancen und Risiken von flexiblen Arbeitszeitmodellen müssen Gewerkschaften in entsprechenden tarifvertraglichen Regelungen berücksichtigen und zu einem für Beschäftigte vernünftigen Ausgleich bringen. Astrid Schmidt verweist dazu als Beispiel auf den im vergangenen Jahr abgeschlossenen Tarifvertrag „mobile working“ bei der Telekom.
Aus Sicht von ver.di besteht jedoch keine Notwendigkeit für die Schaffung von „Experimentierräumen“ unterhalb des Schutzniveaus des Arbeitszeitgesetzes. Es ist auch grundsätzlich nicht nachzuvollziehen, warum eine Gewerkschaft hier eine tarifliche Regelung mit einer Unterschreitung des gesetzlichen Mindestschutzes vereinbaren sollte.
Aus gewerkschaftlicher Sicht stellen die bestehenden gesetzlichen Regelungen einen Mindeststandard für Arbeitnehmer*innen dar, der auch aus medizinischer und sozialwissenschaftlicher Sicht im Sinne gesunder und sozialverträglicher Arbeitszeiten notwendig ist.
Informative Links:
Arbeitszeitreport 2016