Veranstaltung des DGB Rechtsschutzes
Forum 1: Streitobjekt Arbeitszeit
Campus Arbeitsrecht: Prof. Dr. Daniel Ulber, Universität Halle-Wittenberg, und Waldemar Reinfelder, Richter am Bundesarbeitsgericht, referierten unter der Moderation von Dr. Johannes Heuschmid, Hugo Sinzheimer Institut für Arbeitsrecht, und Dorothee Müller-Wenner, Redakteurin der Zeitschrift Arbeit und Recht, über das Thema Arbeitszeit in seinen vielfältigen Facetten.
Forum 1 war das mit Abstand meist besuchte Forum mit einer Zahl von über 200 Teilnehmern. Schon daraus wird deutlich, wie aktuell und praxisrelevant das Thema ist.
Rechtsprechung zum Arbeitszeitrecht
Der Vortrag von Prof. Ulber befasste sich mit aktuellen Entwicklungen in der Rechtsprechung zum Arbeitszeitrecht.
Arbeitszeit ist nicht nur die eigentliche Arbeitszeit. Auch „inaktive“ Arbeitszeiten wie Arbeitsbereitschaft und Bereitschaftsdienst gehören dazu. Hier ging Prof. Ulber vor allem auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) ein. Es handelt sich immer um Arbeitszeit, wenn der Arbeitgeber vorgibt, an welchem Ort sich Arbeitnehmer*innen aufhalten müssen, um die Arbeit in einer kurzen Zeitspanne aufnehmen zu können.
Fall des belgischen Feuerwehrmannes
Gerade kürzlich hatte der EuGH (Urteil vom 21.2.2018, C-518/15) über den Fall des Feuerwehrmannes Matzak aus Belgien entschieden.
Dieser arbeitete von zuhause aus. Er war verpflichtet, seinen Einsatzort innerhalb von 8 Minuten zu erreichen. Auch die zuhause verbrachte Zeit bis zu seinem Einsatz ist Arbeitszeit.
Prof. Ulber betonte, dass der EuGH bei der Frage, ob es sich um Arbeitszeit handelt, darauf abstellt, wie stark der Arbeitnehmer in seinem Bewegungsspielraum eingeschränkt ist.
Ruhezeit zwischen Arbeitszeit und Betriebsratstätigkeit
Ob Betriebsratstätigkeit Arbeitszeit ist, hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) noch offen gelassen. Nach Auffassung von Prof. Ulber dürfte das BAG diese Frage auch nicht ohne eine Vorlage des Rechtsstreits zum EuGH entscheiden.
Jedenfalls sind auch bei Betriebsratstätigkeit die Wertungen des Arbeitszeitgesetzes zu berücksichtigen. Konkret bedeutet das, dass zwischen Arbeitsaufnahme und Betriebsratstätigkeit die nach dem Arbeitszeitgesetz vorgegebene Ruhezeit von 11 Stunden eingehalten werden muss. Das Betriebsratsmitglied muss deshalb zur Sicherung der Ruhezeit die Arbeit später aufnehmen (so Urteil des BAG vom 18.1.2017, 7 AZR 224/15).
Fahrzeiten und Reisezeiten
Prof. Ulber ging auch auf das wichtige und kontroverse Thema Fahrzeiten ein. Grundsätzlich zählen Fahrtzeiten von der Wohnung zum Arbeitsort nicht zur Arbeitszeit. Fahrten, die Arbeitnehmer*innen vom vereinbarten Arbeitsort zu anderen Betriebsstätten unternehmen müssen, sind dagegen Arbeitszeit.
Fahrten von Beschäftigten im Außendienst
Als Arbeitszeit gelten Fahrten von Außendienstmitarbeitern*innen, die unterschiedliche Kunden besuchen müssen. Das gilt auch für die erste Fahrt zum Kunden und die letzte Fahrt vom Kunden zurück, da bei Außendienstmitarbeitern*innen kein fester Arbeitsort besteht.
In diesem Zusammenhang wies Prof. Ulber auf das Urteil des EuGH vom 10.9.2015 (C-266/14) hin.
Hier musste ein Mitarbeiter zunächst vom Wohnort zur Betriebsstätte fahren und von dort zum Kunden. Die Fahrten zu den Kunden waren Arbeitszeit. Als die Betriebsstätte aufgelöst wurde, vertrat der Arbeitgeber den Standpunkt: die Arbeitszeit beginne nun beim Kunden.
Wäre dies richtig gewesen, hätte der Arbeitnehmer teilweise immense Fahrtstrecken von teilweise über 100 km vom Wohnort zum Kunden selbst zu tragen, da diese plötzlich nicht mehr als Arbeitszeit zählen sollten. Der EuGH wies die Auffassung des Arbeitgebers zurück. Auch die Fahrten vom Wohnort zum Kunden sind Arbeitszeit.
Dienstreisen
Das BAG verneinte bisher regelmäßig bei Dienstreisen außerhalb der vereinbarten Arbeitszeit, dass es sich um Arbeitszeit handelt. Ausnahme: wenn der Arbeitgeber seinen Mitarbeitern*innen auf der Fahrt Arbeitsaufträge gibt.
Auf dem Hintergrund der Entscheidungen des EuGH zum Außendienst und zum belgischen Feuerwehrmann meinte Prof. Ulber, dass auch Dienstreisen mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder im PKW als Arbeitszeit anzusehen sind. Dies gilt vor allem dann, wenn der Arbeitnehmer für den Arbeitgeber erreichbar ist und somit während dieser Zeit dessen Weisungsrecht unterliegt.
Umkleidezeiten
Umkleidezeiten sind Arbeitszeiten im Sinne des Arbeitsschutzes, aber auch des Vergütungsrechts, wenn
- entweder der Arbeitgeber eine bestimmte Kleidung im Betrieb vorschreibt und anordnet, dass sie erst im Betrieb angelegt werden soll,
- oder wenn eine Anreise zum Arbeitsort in dieser Dienstkleidung unzumutbar ist.
Den zeitlichen Aufwand dafür müssen Arbeitnehmer*innen darlegen und nachweisen. Eine Schätzung ist aber möglich.
Nachtarbeit
Bei Nachtarbeit beträgt der Zuschlag, den der Arbeitgeber gemäß Arbeitszeitgesetz nach der Rechtsprechung des BAG zahlen muss, im Regelfall 25 %. Bei Dauernachtarbeit sind es 30 %.
Der Zuschlag dient eigentlich nicht dem Gesundheitsschutz, weil er - der Gesundheit eigentlich abträgliche - Nachtarbeit voraussetzt. Das BAG argumentiert aber mit einem mittelbaren Schutz, der dadurch entsteht, dass der höhere Zuschlag Nachtarbeit unattraktiv machen und damit begrenzen soll.
Prof. Ulber kritisiert die Rechtsprechung insofern, als das BAG einen geringeren Zuschlag billigt, wenn Nachtarbeit stattfinden muss, weil sie unvermeidbar ist. Dies höhlt seiner Auffassung nach den Gesundheitsschutz aus. Vorzugswürdig sei deshalb nicht die Gewährung eines Zuschlags, sondern der ebenfalls im Arbeitszeitgesetz vorgesehene Freizeitausgleich.
Sonntagsarbeit
Gegen die behördliche Erlaubnis von Sonntagsarbeit hat das Verwaltungsgericht Düsseldorf angenommen, dass nicht nur Kirchen, sondern auch Gewerkschaften das Recht haben zu klagen. Ihnen komme insoweit eine sozialstaatliche Funktion zu.
Das VG Kassel hatte zuletzt über Sonntagsarbeit bei Amazon zu entscheiden. Es betonte, dass solche Arbeiten am Sonntag unzulässig sind, da es sich um planbare Einsätze geht, die bei frühzeitiger Organisation Sonntagsarbeit hätten verhindern können.
Diskussion um den belgischen Feuerwehrmann
Vor allem der von Prof. Ulber angesprochene Fall des belgischen Feuerwehrmannes regte zu Diskussionen an. Wenn der EuGH bei der Frage, ob es sich um Arbeitszeit handelt, auf Einschränkungen im Bewegungsspielraum von Arbeitnehmer*innen abstellt, kann das für das deutsche Recht von Bedeutung sein. Denn darin eingeschränkt sind auch Arbeitnehmer, wenn sie sich auf Dienstreise begeben müssen.
Überstunden im Arbeitsgerichtsprozess
Richter am Bundesarbeitsgericht Waldemar Reinfelder referierte im Anschluss an den Vortrag von Prof. Ulber über das Thema Überstunden im Arbeitsgerichtsprozess unter besonderer Berücksichtigung der Aufzeichnungspflichten.
Er griff damit „ein heißes Eisen“ auf: denn Überstundenprozesse sind schwer zu gewinnen, da Arbeitnehmer*innen hohe Hürden bei der Darlegung und beim Nachweis geleisteter Überstunden überwinden müssen.
Vergütungserwartung
Ob es sich überhaupt um Überstunden handelt, richtet sich zunächst nach der vereinbarten Arbeitszeit. Ob Überstunden zu vergüten sind, bestimmt sich danach, ob Arbeitnehmer*innen üblicherweise dafür eine Vergütung erwarten können.
Das ist etwa dann nicht der Fall, wenn das Gehalt herausragend ist und sich oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze der Rentenversicherung bewegt. Diese Grenze liegt ab 1.1.2018 bei einem Gehalt von 6.500 € brutto monatlich.
Vertragsklauseln, die Überstundenvergütung ausschließen
Es gibt Klauseln in Arbeitsverträgen, wonach die ersten 20 Überstunden im Gehalt enthalten sind. Ob diese Klauseln zulässig sind, hängt von der Formulierung im Einzelfall ab.
Die Vergütung für sämtliche tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden darf allerdings nie den gesetzlichen Mindestlohn und - bei Tarifgeltung - den Tariflohn unterschreiten.
Darlegung von Überstunden im Prozess
Nach der Rechtsprechung des 5. Senats des BAG müssen Arbeitnehmer*innen, die Überstundenvergütung durchsetzen wollen, folgendes darlegen:
- Arbeiten oder Arbeitsbereitschaft an welchen Tagen von wann bis wann
- Dass der Arbeitgeber Überstunden angeordnet, gebilligt oder geduldet hat oder dass diese jedenfalls zur Erledigung der geschuldeten Arbeit notwendig waren.
Arbeitnehmer*innen müssen also nicht nur die geleisteten Arbeitsstunden im Einzelnen darstellen, sie müssen auch vortragen, weshalb sie dem Arbeitgeber zuzurechnen sind.
Dazu formuliert das BAG: „Arbeitgeber müssen sich Leistung und Vergütung von Überstunden nicht aufdrängen lassen“.
Aufzeichnungspflichten ändern an der Darlegungslast nichts
Auch die Pflicht des Arbeitgebers, u. a. im Mindestlohngesetz, Arbeitsstunden aufzeichnen zu müssen, hat nach Auffassung von Herrn Reinfelder am Grundsatz der Darlegungs- und Beweislastverteilung im Überstundenprozess nichts geändert.
Auch dann nicht, wenn der Arbeitgeber versucht, seine Pflicht zur Aufzeichnung an seine Arbeitnehmer*innen zu übertragen.
Arbeitgeber muss Aufzeichnungen entgegennehmen
Herr Reinfelder sieht in diesen Fällen den Arbeitgeber allerdings als verpflichtet an, die Aufzeichnungen seiner Arbeitnehmer*innen entgegenzunehmen und sich dazu zu erklären.
Bei Verletzung dieser Pflicht hält er einen Schadensersatzanspruch für möglich.
Arbeitszeitkonto
Verlangen Arbeitnehmer*innen im Prozess Stundengutschriften auf ein Arbeitszeitkonto, müssen sie nicht nur darlegen, dass ein Arbeitszeitkonto geführt wird. Sie müssen auch vortragen, dass eine Gutschrift noch möglich ist und an welcher Stelle im Arbeitszeitkonto die Stunden gutgeschrieben werden sollen (BAG, Urteil vom 23.3.2016, 5 AZR 758/13).
Überstundennachweis erleichtern
Zur Erleichterung des Nachweises geleisteter Überstunden verwies Herr Reinfelder auf die prozessuale Möglichkeit, sich auf Aufzeichnungen des Arbeitgebers zu beziehen, deren Vorlage durch den Arbeitgeber das Gericht anordnen könne (§ 142 ZPO).
Anschließende Diskussion
Das Thema Überstunden ist ein kontroverses Thema. Von den Teilnehmern*innen wurde die vom 5. Senat des BAG bestimmte Darlegungs- und Beweislastverteilung in Überstundenprozessen als rigide und nachteilig für Arbeitnehmer*innen angesehen.
Auch Herr Reinfelder distanzierte sich vorsichtig von mancher Sichtweise des 5. Senats, indem er etwa den Arbeitgeber für verpflichtet hält, Arbeitszeitaufzeichnungen von Arbeitnehmer*innen zumindest zur Kenntnis zu nehmen, und bei Verletzung dieser Pflicht einen Schadensersatzanspruch für möglich hält.
Außerdem verwies er auf die Entscheidung des LAG Berlin-Brandenburg (Urteil vom 28.6.2017, 15 Sa 66/17), in der betont wird, dass der Arbeitgeber „Herr des Betriebes“ ist und gegen Überstunden auch einschreiten kann.
Herr Reinfelder gab auch einer Diskussionsteilnehmerin Recht, die kritisierte, dass Beschäftigte nach der Rechtsprechung des BAG nicht nur geleistete Arbeitsstunden darlegen und beweisen müssten, sondern auch noch, dass ein Ausgleich im Sinne flexibler Arbeit nicht möglich war. Ein entsprechender Vortrag könne - so Reinfelder - nur bei bestimmten Ausgestaltungen des Arbeitsverhältnisses verlangt werden.
Ein Diskussionsteilnehmer sprach den Referenten auf die EuGH-Entscheidung in der Rechtssache Lange (Urteil vom 8.2.2001, C-350/99) an. Danach unterliegen Überstundenverpflichtungen der Nachweisrichtlinie und damit auch dem Nachweisgesetz. Herr Reinfelder wies darauf hin, dass dem BAG bisher noch kein Fall vorgelegt wurde, um über die Rechtsfolgen, insbesondere Sanktionen, für den Fall zu entscheiden, dass der Arbeitgeber gegen diese Nachweispflicht verstoßen hat.
Hinweis auf Veröffentlichung
Die Vorträge von Prof. Ulber und Herrn Reinfelder werden in Kürze als Aufsätze in der Zeitschrift Arbeit und Recht (voraussichtlich Heft 6-18) erscheinen.
Weitere Links:
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